Hände vorm Gesicht: Überreste der weltweit bislang ältesten zeremoniellen Enthauptung.
Copyright: Danilo Bernardo
Leipzig (Deutschland) – Nur wenige Gebräuche der amerikanischen Ureinwohner beeindruckten die europäischen Kolonialherren mehr als die Abtrennung und Zurschaustellung menschlicher Körperteile, besonders bei Enthauptungen. In Brasilien haben Wissenschaftler nun archäologischen Überreste gefunden, die eine rituelle Enthauptung eines Menschen in Lapa do Santo schon vor 9.000 Jahren belegen. 6.000 Jahre vor den bislang ältesten derartigen Funden in den Anden.
Wie das internationale Forscherteam um André Strauss vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie aktuell im Fachjournal „PLoS One“ (DOI: 10.1371/journal.pone.0137456) berichtet, gehen die meisten Wissenschaftler davon aus, dass diese Praxis unter den Ureinwohnern des gesamten Südamerikanischen Kontinents üblich war und bereits seit langer Zeit existiert.
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Die bislang früheste Enthauptung konnten Archäologen vor etwa 3.000 Jahren in den Anden nachweisen: „Weitere archäologisch dokumentierte Enthauptungen fanden ebenfalls in den Anden statt und wurden zum Beispiel von den Inka, Nazca, Moche, Wari und den Tiwanaco praktiziert“, so die Forscher. „Daher wurden Herkunft und eindeutige Ausführung dieser Praxis bisher als ein Phänomen der Andenregion betrachtet.“
Der neuen Fund in Brasilien belege nun nicht nur, dass Enthauptungen bereits seit sehr viel längerer Zeit praktiziert wurden als bisher angenommen, sondern dass sie nicht auf den westlichen Teil des südamerikanischen Kontinents beschränkt gewesen waren.
„Die Bestattung enthielt den Schädel, den Unterkieferknochen, die ersten sechs Halswirbel und zwei abgetrennte Hände eines erwachsenen Mannes“, berichtete die Pressemitteilung des Instituts und führt weiter aus: „Die rechte Hand bedeckte die linke Gesichtshälfte, die Finger in Richtung Kinn zeigend. Die linke Hand bedeckte die rechte Gesichtshälfte, die Finger in Richtung Stirn zeigend. Mithilfe eines Konfokalmikroskops konnten die Forscher dreidimensionale Modelle der V-förmigen Schneidespuren generieren, wobei sie feststellten, dass das Weichgewebe mithilfe von Steinblättchen entfernt worden war. Einem Team von an der Studie beteiligten Forensikern zufolge war das Entfernen des Kopfes jedoch nicht ein Ergebnis der Schnitte. Stattdessen war der Kopf durch Ziehen und Drehen vom Körper abgetrennt worden.“
Obwohl aus westlicher Sicht die Enthauptung häufig im Kontext von Gewalt und Bestrafung zwischen verschiedenen Gruppen verstanden wurde, deuten die archäologischen und ethnographischen Belege auf ein komplexeres Szenario in der Neuen Welt hin. „Die chemische Analyse von Strontium-Isotopen ergab, dass es sich bei dem enthaupteten Mann um ein Mitglied der Gemeinschaft handelte und nicht um einen besiegten Feind“, erläutert Domingo Carlos Salazar-Gárcia, ebenfalls vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
Schematische Darstellung der Bestattung aus Lapa do Santo.
Copyright: Gil Tokyo
Offenbar handelte es sich also viel eher um den Teil eines komplexen Bestattungsrituals, der mit einer Manipulation des Körpers einherging als um einen gewalttätigen Akt gegen Feinde und die Zurschaustellung einer Trophäe. Statt dessen deute die sorgfältige Anordnung der Hände über dem Gesicht (s. Abb.) darauf hin, dass der enthauptete Schädel der Gemeinschaft präsentiert wurde – ein Ritual, das möglicherweise der Kräftigung des sozialen Zusammenhalts innerhalb der Gemeinschaft gedient haben könnte. „Diese ritualisierte Bestattung bestätigt die frühe Komplexität von Bestattungsritualen bei Jägern und Sammlern auf dem amerikanischen Kontinent“, sagt Strauss abschließend. „Darüber hinaus zeigen unsere Ergebnisse, dass diese Praxis in Südamerika doppelt so alt ist und geografisch weiter verbreitet war, als bisher angenommen.“
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