– Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Gastbeitrag von Prof. Dr. Avi Loeb, der am 11. April 2023 im englischsprachigen Original als Essay unter dem Titel „Extraterrestrials Offer Benefits, Not An Existential Risk“ erstveröffentlicht wurde. Der Text wurde – mit freundlicher Genehmigung des Autors (A. Loeb) – durch www.GrenzWissenschaft-Aktuell.de (GreWi) ins Deutsche übersetzt. Die vom Autor geäußerten Ansichten sind seine eigenen.
Im Jahr 2010 warnte Stephen Hawking, dass Außerirdische ein existenzielles Risiko für die Menschheit darstellen könnten und wir daher vorsichtig sein sollten, wenn wir Informationen über unsere Existenz in den interstellaren Raum übertragen. Sechs Jahre später lud ich Hawking zu einem Pessach-Seder bei mir zu Hause ein, aber das war ein Jahr zu früh – ein Jahr bevor das anomale interstellare Objekt `Oumuamua 2017 entdeckt wurde – mit ich begann, mich für die mögliche Passage außerirdisch-technologischer Objekte in der Nähe der Erde zu interessieren.
Nachdem ich in den letzten sechs Jahren seit der Entdeckung der Anomalien von `Oumuamua viel über dieses Thema nachgedacht habe, widerspreche ich nunmehr Hawking in dieser Angelegenheit respektvoll.
Erstens sind unsere moderne Wissenschaft und Technologie erst ein Jahrhundert alt. Die Grundprinzipien der Quantenmechanik, die die Grundlage für unsere elektronischen Geräte, Computertechnologie und künstliche Intelligenz (KI) bilden, wurden erst vor einem Jahrhundert entdeckt. Dieser Zeitraum repräsentiert nur einen Teil der hundert Millionen Jahre des typischen Alters bewohnbarer Exoplaneten in der Milchstraße. Es ist unwahrscheinlich, dass andere Zivilisationen auf die Genauigkeit eines Jahrhunderts mit unserer Phase der technologischen Entwicklung synchronisiert sind, da ihre Sterne Milliarden von Jahren vor der Sonne entfernt entstanden sind. Wenn sie nach terrestrischen Ressourcen suchen würden, hätten sie die Erde bereits erreicht, lange bevor wir unsere moderne Wissenschaft entwickelt haben. Außerdem haben wir sie noch nicht erreicht und wenn sie uns zuerst erreichen würden, würden dies zeigen, dass sie technologisch weiter fortgeschritten sind als wir. Aus kosmischer Sicht dürften sie von Jahrtausenden, Millionen oder gar Milliarden Jahren an wissenschaftlichem Fortschritt profitiert haben. Langsame Raumschiffe, die sie vielleicht früh gestartet haben, wurden von einer Vielzahl fortschrittlicher Sonden, die sie später herstellten, eingeholt.
www.grenzwissenschaft-aktuell.de
+ HIER können Sie den täglichen und kostenlosen GreWi-Newsletter bestellen +
Angesichts dieser kosmischen Umstände wären fortgeschrittene Außerirdische durch unsere derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht bedroht. Unsere Spezies also vermutlich würde so unbedeutend erscheinen wie eine Ameisenkolonie in der Ritze eines Gehsteigs im Auge eines vorbeifahrenden Motorradfahrers.
Da außerirdische Technologien wahrscheinlich weit fortgeschrittener sein werden, können wir sehr davon profitieren ihnen zu begegnen. Aus diesem Grund müssen wir proaktiv nach technologischen Sonden in der Nähe der Erde suchen, um etwas über unsere kosmischen Nachbarn zu lernen. Das ist der Grundgedanke hinter dem Galileo-Projekt, das ich leite. Das Team des Projekts errichtete ein neues Observatorium auf dem Grundstück der Harvard University, das bereits neue Daten liefert, die von einer KI-Software auf der Suche nach außerirdischen technologischen Objekten in der Nähe der Erde analysiert wird. Wir planen zudem eine Expedition, um die Zusammensetzung der Fragmente des ersten interstellaren Meteors (IM1) zu untersuchen, der härter war als alle anderen Meteore im CNEOS-Katalog der NASA, einschließlich derer aus Eisen.
Eine Begegnung mit einer überlegenen außerirdischen Technologie würde der Menschheit die Möglichkeit bieten, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu erwerben, die über das hinausgehen, was wir im vergangenen Jahrhundert gelernt haben. Eine solche Begegnung würde uns auch einen Einblick in unsere eigene technologische Zukunft geben und uns einen Quantensprung bieten, sofern wir weise genug wären, ihren innovativen Inhalt in unser irdisches Leben zu integrieren. Durch die Verwendung unserer eigenen KI-Systeme zur Interpretation außerirdischer KI-Sonden könnten Unternehmer neue Produkte unserer zukünftigen Wirtschaft herstellen. Zumindest könnten unsere eigenen KI-Systeme lernen, außerirdische KI-Astronauten zu imitieren, was dem traditionellen „Nachahmungsspiel“ von Alan Turing eine neue Bedeutung verleihen würde. Die Entdeckung interstellarer Besucher könnte auch neue Bestrebungen der Menschen für die interstellare Raumfahrt inspirieren.
Zweitens favorisiert meine Sichtweise des „Überlebens des Stärkeren“ im interstellaren Raum eine weise, friedenssuchende, weltraumerforschende Spezies, weil aggressive oder militaristische Varianten wahrscheinlich durch Konflikte eingeschränkt werden und daher eine kürzere Lebensdauer haben.
Zum Thema
Die Begegnung mit einem friedlichen Nachbarn wäre ein lehrreicher Moment für uns. Wir werden vielleicht an die Worte von John Lennon erinnert: „Stellen Sie sich vor, alle Menschen leben in Frieden“ und entscheiden uns dafür, unser derzeitiges globales Militärbudget von 2 Billionen Dollar pro Jahr für die Weltraumforschung umzuwidmen, was es uns ermöglichen würde, bis zum Ende des 21. Jahrhunderts Sonden zu jedem der zig Milliarden Sterne in der Milchstraße zu senden. Die erfolgreichsten Weltraumforscher aus den Milliarden bewohnbarer erdgroßer Exoplaneten hätten dieses Ziel inzwischen erreichen können. Die meisten sonnenähnlichen Sterne entstanden Milliarden von Jahren vor unserer Sonne, und es dauert weniger als eine Milliarde Jahre, bis eine interstellare Sonde mit chemischem Antrieb wie jene von Voyager 1, Voyager 2, Pioneer 10, Pioneer 11 oder New Horizons die Sternenscheibe der Milchstraße überqueren würde.
Die Frage, ob wir in einer Realität leben, in der interstellare Sonden das innere Sonnensystem besuchen, kann beantwortet werden, indem wir genau so durch unsere heutigen Teleskope schauen, wie es auch Galileo Galilei tat und dadurch erkannte, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums bildet. Eine Bestätigung solcher Sonden würde jegliche Zentralität beseitigen, die wir unseren technologischen Errungenschaften innerhalb des Universums zuschreiben.
Basierend auf unserem eigenen Raumschiff werden die meisten interstellaren Sonden vermutlich kleiner als ein Fußballfeld sein – die Größe von `Oumuamua. Solche kleinen Objekte wären für unsere Durchmusterungsteleskope, einschließlich des bevorstehenden Vera C. Rubin Observatory, zu schwach, um sie anhand ihrer Reflexion des Sonnenlichts innerhalb des Erde-Sonne-Abstands zu erkennen. Sonden mit nicht-konventionellem Antrieb sind möglicherweise nicht nachweisbar, weil sie sich zu schnell bewegen, möglicherweise bis zu einem Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit. Das Starshot-Projekt, für das ich den wissenschaftlichen Beirat leite und das Hawking 2016 in seiner Rede bei mir zu Hause feierte, zielt darauf ab, genau das zu tun. Alle Starshot-ähnlichen Sonden, die sich mit halbrelativistischer Geschwindigkeit durch das Sonnensystem bewegen würden von den derzeitigen Mitteln, die von Astronomen zur Überwachung unseres Himmels eingesetzt werden, übersehen.
Insgesamt bin ich der optimistischen Ansicht, dass die Begegnung mit außerirdischen Sonden unser wissenschaftliches Wissen fördern und dadurch unseren Status in der Klasse der intelligenten Zivilisationen verbessern würde. Das Webb-Teleskop zeigt uns, dass der Himmel in alle Richtungen voller Sterne und Galaxien ist, mit vielen potenziellen Knotenpunkten für Nachbarn.
Und Begegnungen mit Außerirdischen hätten auch gesellschaftliche Vorteile. Klügere Kinder in unserer kosmischen Nachbarschaft zu erkennen, sollte uns davon überzeugen, dass die Unterschiede zwischen uns Erdlingen unbedeutend sind und wir uns gegenseitig als gleichberechtigte Mitglieder der menschlichen Spezies behandeln sollten. Vielleicht führt uns das endlich dazu, Lennons Wunsch zu erfüllen. Wir hoffen, dass die Suche in der dritten Dimension des Weltraums uns mehr Weisheit bringt, als unsere zermürbende Geschichte der Kriege auf der zweidimensionalen Oberfläche des Felsens, den wir Erde nennen, gezeigt hat.
Vielleicht bin ich naiv, aber ich glaube, dass das Leben oft eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist. Wenn wir nicht nach neuem Wissen suchen, werden wir es auch nie finden. Und wenn wir uns keine für beide Seiten vorteilhafte Beziehung zu unseren Nachbarn vorstellen, werden wir die Gelegenheit verpassen, von ihnen zu profitieren. In meinem in Kürze erscheinenden Buch „Interstellar“ skizziere ich, wie unsere Zukunft dank der Inspiration, die wir von Außerirdischen beziehen, besser sein könnte als unsere Vergangenheit. Es liegt an uns, uns wissenschaftlichen Wohlstand vorzustellen und diesen anzustreben, anstatt den Terror in der Zukunft der Menschheit zu akzeptieren.
Prof. Dr. Avi Loeb ist Leiter des „Galileo-Projekts“ in Harvard, einer systematischen wissenschaftlichen Suche nach Beweisen für außerirdische technologische Artefakte. Loeb ist Gründungsdirektor von Harvards Black Hole Initiative, Direktor des Institute for Theory and Computation am Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics und Vorsitzender des Beirats des Breakthrough Starshot-Projekts. Er ist Autor des Buches „Außerirdisch: Intelligentes Leben jenseits unseres Planeten“.
WEITERE MELDUNGEN ZUM THEMA
Avi Loeb: Wissen ist Stärke – Außergewöhnliche Beweise erfordern außergewöhnliche Finanzierung 31. März 2023
Trotz neuer Theorie: Oumuamua bleibt rätselhaft 23. März 2023
Avi Loeb: Was macht ein Wunder aus? 27. Januar 2023
Prof. Avi Loeb: Gedanken zum 2022 UAP-Report der US-Geheimdienste 13. Januar 2023
Copernicus Space Corporation: Prof. Avi Loeb und Partner planen Schwarmsuche nach Spuren und Artefakten außerirdischer Intelligenz im Sonnensystem 27. Dezember 2022
Natürlich oder künstlich? Astronomen weisen zweiten interstellaren Meteor nach 22. September 2022
Prof. Avi Loeb: Rückblick auf das erste Jahr des Galileo-Projekts 22. Juli 2022
© Avi Loeb, Übers. Grenzwissenschaft-aktuell.de