– Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Gastbeitrag von Prof. Dr. Avi Loeb, der am 16. Juli 2022 im englischsprachigen Original als Essay via TheMedium.com erstveröffentlicht wurde. Der Text wurde – mit freundlicher Genehmigung des Autors (A. Loeb) durch www.GrenzWissenschaft-Aktuell.de (GreWi) ins Deutsche übersetzt. Die vom Autor geäußerten Ansichten sind seine eigenen.
Unser wissenschaftliches Wissen ragt wie Inseln aus einem Ozean der Unwissenheit heraus. Die beste visuelle Illustration dieses Sachverhalts ist das neue „Deep Field“-Aufnahme des James-Webb-Weltraumteleskops, das am 11. Juli 2022 in einer öffentlichen Präsentation im Weißen Haus von US-Präsident Joe Biden enthüllt wurde. Das Bild zeigt einen Galaxienhaufen, der aufgrund seiner Schwerkraft als sog. Gravitationslinse dahinterliegende Zwerggalaxien aus einer Zeit von bis zu 13,1 Milliarden Jahren erscheinen lässt. Das Licht der Sterne erscheint auf dieser Aufnahme Bild als helle Inseln vor einem dunklen Hintergrund. Der Gravitationslinseneffekt wird aber von einem dunklen Ozean aus Materie dominiert, der das Sternenlicht umgibt. Würde diese Dunkle Materie nun aber leuchten und die uns bekannte gewöhnliche Materie wäre hingegen dunkel, so wäre die Aufnahme viel heller und würde aussehen wie der Himmel an einem sonnigen Tag – voller Licht und gespickt mit winzigen dunklen Wolken. Aber die Webb-Aufnahme zeigt das Gegenteil und sagt uns damit, dass das, was wir wissen, weniger ist als das, was wir noch lernen müssen.
Es ist ein Merkmal des menschlichen Zentrismus, anzunehmen, dass die meisten interessanten Vorgänge im Universum auch jene Minderheit der Materie betreffen, die wir selbst sehen, nur weil wir damit aus unserem Sonnensystem vertraut sind. Eine solche Voreingenommenheit entspricht aber der Denkweise eines Säuglings, der sich einbildet, dass es außerhalb seines Zuhauses nichts Aufregendes gibt.
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Alle unsere bisherigen Versuche, Dunkle Materie in Teilchenbeschleunigern zu erzeugen, indem wir bekannte Teilchen mit hoher Energie aufeinanderprallen lassen, sind bisher gescheitert. Gleichzeitig legt die Geschichte der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik nahe, dass die Natur sehr viel fantasievoller ist als wir.
Die einfachste Annahme ist, dass Dunkle-Materie-Teilchen nicht voneinander abstreuen, genauso wie sie nicht an gewöhnlicher Materie streuen. Doch diese Annahme führt zu Spannungen zwischen Theorie und Beobachtungen von Zwerggalaxien. Zwerggalaxien sind die Bausteine von Galaxien wie unserer Milchstraße, die sich in frühen kosmischen Zeiten aus Millionen von Zwerggalaxien zusammenfanden. Die direkte Beobachtung dieser Bausteinchen würde es uns ermöglichen, die Natur der Dunklen Materie zu untersuchen.
Das Entdeckungspotenzial mit dem Webb-Teleskop ist groß, wenn man bedenkt, dass sein besagtes erstes „tiefes Bild“ mit einer Belichtungszeit von einem halben Tag gemacht wurde wurde. Eine Verlängerung dieser Belichtungszeit auf drei Wochen, wie dies bei „eXtreme Deep Field“ des Hubble-Teleskops der Fall war, würde es dem Webb-Teleskop ermöglichen, Zwerggalaxien zu entdecken, die sechsmal lichtschwächer sind als jene, die auf seinem ersten Tiefenbild zu sehen sind.
Die Herausforderungen für nicht-wechselwirkende Dunkle Materie könnten gemildert werden, wenn die Dunkle Materie selbst mit einem Querschnitt pro Masseneinheit interagiert, der ähnlich ist wie bei bekannten Teilchen, etwa wie Neutronen selbst miteinander interagieren.
Selbstinteraktion schlägt eine faszinierende Reihe von Möglichkeiten vor. Was wäre, wenn Dunkle Materie etwa eine Mischung aus Teilchen wäre, die stark miteinander wechselwirken, aber nicht mit gewöhnlicher Materie? Die gravitative Wechselwirkung, durch die Dunkle Materie durch ihre Wirkung auf sichtbare Materie gefunden wird, ist unvermeidlich. Nach Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie stellt die Schwerkraft die Krümmung der Raum-Zeit dar, die allen Formen von Materie gemeinsam ist, unabhängig davon, ob sie für uns sichtbar oder unsichtbar sind.
Die Selbstinteraktion lässt nun die Möglichkeit zu, dass es „dunkle Atome“ gibt, die „dunkle Strahlung“ aussenden und sich zu „dunklen Sternen“ und „dunklen Planeten“ verdichten, die „dunkle Chemie“ fördern, die zu „dem Leben, wie wir es nicht kennen“ führen kann.
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In einem solchen Fall könnte die Antwort auf die Frage des Fermi-Paradoxon: „Wo sind alle?“ lauten: „Für die meisten von ihnen sind wir blind.“ Die Schwerkraft würde uns nicht helfen, den Durchgang von asteroidengroßen Objekten aus dunkler Materie in der Nähe der Erde zu bemerken, und größere Objekte werden niemals nahe kommen. Das Gravitationswellensignal von einem erdnahen Durchgang eines Objekts aus Dunkler Materie, das so massiv ist wie der Chicxulub-Impaktor, der die Dinosaurier auslöschte, kann von unserem hochmodernen LIGO-Virgo-KAGRA-Detektor nicht erfasst werden. Sein Durchgang durch die Erde könnte seismisches Rauschen erzeugen, aber es ist unwahrscheinlich, dass dies während des Erdzeitalters auftritt.
Gewöhnliche Materie macht derzeit nur ein Zwanzigstel des kosmischen Massenbudgets aus. Dunkle Materie macht ein Viertel davon aus und der Rest ist Dunkle Energie, ein weiterer unbekannter Bestandteil, der die beschleunigte kosmische Ausdehnung antreibt.
Wenn irgendjemand da draußen Dunkle Materie oder Dunkle Energie verwendet, um sein Raumschiff anzutreiben, würden wir nichts aus dem Auspuff seiner Antriebe kommen sehen.
Die wissenschaftliche Methode orientiert sich an Daten. Die Bevorzugung von Beweisen gegenüber Vorurteilen hat zwei Erscheinungsformen, eine wird routinemäßig praktiziert und die andere wird meistens ignoriert. Die erste Manifestation verwendet die Guillotine von Daten, um Möglichkeiten zu eliminieren, die die Realität nicht beschreiben. Das weniger praktizierte Prinzip besteht darin, Beweise, die von den theoretischen Erwartungen abweichen, vielmehr als Gelegenheit zum Erlernen neuer Erkenntnisse zu betrachten, statt als Bedrohung von auf altem Wissen beruhenden Erfahrungen und Gewohnheiten.
Vier Jahrzehnte nachdem Fritz Zwicky 1933 die Existenz Dunkler Materie vorgeschlagen hatte, hielt ein junger Jerry Ostriker ein Kolloquium über neue Beweise für Dunkle Materie an Zwickys Heimatinstitut Caltech und wurde vom Publikum als Fürsprecher wilder Spekulationen abgehandelt. Heute wissen junge Kosmologen gar nicht mehr, welchen Gegenwind das Konzept der Dunklen Materie fast ein halbes Jahrhundert lang erzeugt hat.
Und hier nun liegt ein weiterer Aspekt der kopernikanischen Revolution. Wir befinden uns nicht nur nicht im Zentrum der kosmischen Bühne und wir betraten diese Bühne auch noch mit ziemlicher Verspätung. Auch repräsentieren wir nicht den Großteil dessen, was auf dieser Bühne gezeigt wird. Bis wir herausgefunden haben, was dieses „dunkle Zeug“ ist, können wir nicht behaupten zu wissen, worum es in dem kosmischen Spiel überhaupt geht. Die Schlüssel zu den Fragen unserer Existenz sind nicht nur unter dem Licht jener Straßenlampen zu finden, die auf der Webb-Aufnahme zu sehen sind.
Wir wissen, dass die Dichtestörungen, die unsere Milchstraßengalaxie entstehen ließen, durch die Streuung gewöhnlicher Materie auf dem kosmischen Mikrowellenhintergrund gedämpft worden wären, wenn es keine Dunkle Materie gegeben hätte, um so die Erinnerung an ihren ursprünglichen Ursprung zu bewahren. Tatsächlich verdanken wir also unsere Existenz einem unsichtbaren Akteur.
Prof. Dr. Avi Loeb ist Leiter des „Galileo-Projekts“ in Harvard, einer systematischen wissenschaftlichen Suche nach Beweisen für außerirdische technologische Artefakte. Loeb ist Gründungsdirektor von Harvards Black Hole Initiative, Direktor des Institute for Theory and Computation am Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics und Vorsitzender des Beirats des Breakthrough Starshot-Projekts. Er ist Autor des Buches „Außerirdisch: Intelligentes Leben jenseits unseres Planeten“
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© Avi Loeb, grenzwissenchaft-aktuell.de (dt. Übers)