New York (USA) – In einer aktuellen Studie belegen Mediziner und Neurowissenschaftler, dass einige Patienten bis zu einer Stunde nach ihrem Herzstillstand Hirnwellenmuster aufwiesen, die mit bewusstem Denken in Verbindung stehen.
Wie das Team um Dr. Sam Parnia, außerordentlicher Professor am Department of Medicine der New York University Langone Health aktuell im Fachjournal „Resuscitation“ (DOI: 10.1016/j.resuscitation.2023.109903) berichtet, währten in einigen Fällen von Patienten, deren Herzen aufgehört hatten, zu schlagen und die durch Wiederbelebungsmaßnahmen (CPR) wiederbelebt wurden, danach Erinnerungen daran, diesen „Tod“ erlebt zu haben. Gestützt werden diese Erinnerungen durch die Messung von Gehirnaktivitätsmustern, wie sie allgemein mit Gedanken und Erinnerungen assoziiert werden.
Die Studie, die von Medizinern und Medizinerinnen der der NYU Grossman School of Medicine in Zusammenarbeit mit 25 hauptsächlich US-amerikanischen und britischen Krankenhäusern durchgeführt wurde, untersuchte Überlebende eines Herzstillstands, die lebhafte Todeserfahrungen beschrieben, wie sie auftraten, während die Patienten scheinbar bewusstlos waren und reanimiert wurden. Trotz unmittelbarer Behandlung erholten sich weniger als 10 Prozent der 567 untersuchten Patienten, die in den beteiligten Krankenhäusern CPR erhielten, ausreichend, um entlassen zu werden. Allerdings erinnerten sich 4 von 10 der Überlebenden an irgendeinen Grad von Bewusstsein während der CPR, der nicht von Standardmessungen erfasst wurde.
Hintergrund: AWARE II
Die „AWAreness during REsuscitation“-(AWARE)-II-Studie begleitete 567 Männer und Frauen, die zwischen Mai 2017 und März 2020 in den USA und Großbritannien während ihres Krankenhausaufenthalts einen Herzstillstand erlitten hatten. Von den 567 Patienten wurden nur 85 per EEG überwacht, um die Gehirnwellen während ihrer Erfahrungen zu messen. Die Forscher präsentierten die Ergebnisse der Studie erstmals bei einem Symposium zur Wiederbelebungswissenschaft, das im Rahmen der Scientific Sessions 2022 der American Heart Association am 6. November in Chicago stattfand (…GreWi berichtete).Zusätzlich wurden Aussagen von 126 Überlebenden, die sich an selbst an Erinnerungen während dieser Todesphase erinnerten, untersucht, um ein besseres Verständnis der Themen im Zusammenhang mit den Erinnerungen an den Tod zu erhalten.
AWARE I
AWARE-II folgt der ersten Phase der AWARE-Studie zum „Bewusstsein während Reanimation“. Experimentell wollte AWARE (AWARE I) der Frage auf dem Grund gehen, inwieweit mentale Zustände wie Wahrnehmung, Kognition und Bewusstsein ohne messbare Hirnaktivität auftreten können. Ursprünglich hatten sich 15 Krankenhäuser in Großbritannien, USA und Österreich an dieser Studie beteiligt. Während viereinhalb Jahren erfolgten standardisierte Befragungen von Patienten, die nach einem Herzstillstand mittels Herz-Lungen-Wiederbelebung reanimiert worden waren. In den sich an der Studie beteiligenden Kliniken waren während der Studienphase 330 Patienten erfolgreich reanimiert worden. Einige Patienten verstarben allerdings kurz darauf oder konnten aufgrund ihres allgemeinen Krankheitszustandes nicht weiterführend interviewt und untersucht werden. Es wurden 140 Erstinterviews durchgeführt. 55 Befragte berichteten von Erinnerungen während ihrer Bewusstlosigkeit. 9 von einer sog. Nahtoderfahrung.Zwei Studienteilnehmer erinnerten sich zudem an audio-visuelle Wahrnehmungen im Behandlungszimmer und Erlebnissen, die Ähnlichkeiten mit außerkörperlichen Erfahrungen aufzeigten. Während bei einem der beiden Patienten der Krankheitsverlauf eine weitere Befragung unmöglich machte, wurde mit dem anderen, einem 57-jährigen Mann aus Southampton, ein Vertiefungsinterview geführt. Seine Aussagen über den ihn behandelnden Arzt und den Verlauf der Reanimation konnten überprüft und verifiziert werden.
Ein anderer Teil der AWARE-Studie bestand aus Bilder- und Symboltafeln, die in Intensivabteilungen der beteiligten Kliniken derart hoch in den Räumen angebracht oder auf Regalen positioniert und ausgerichtet waren, dass ihre Symbole nur von der Zimmerdecke aus, also für einen hier „schwebenden“ Betrachter sichtbar waren, also aus jener Position im Raum aus, von der Menschen mit außerkörperlichen Erfahrung oft berichten, nachdem sie die Wahrnehmung hatten, ihren Körper verlassen zu haben. Obwohl rund 1.000 Tafeln installiert waren, befanden sich 78 Prozent der im Studienzeitraum nach einem Herzstillstand reanimierten 2.060 Patienten während der Wiederbelebungsbemühungen aus ganz unterschiedlichen fachlichen und medizinischen Gründen in Räumen ohne diese Bildertafeln. Dies galt leider auch für die beiden einzigen Studienteilnehmer mit visuellen Wahrnehmungserinnerungen.
Die aktuelle Studie (AWARE II) ergab auch, dass bei diesen Patienten fast 40 Prozent der Gehirnaktivität, die sogar noch eine Stunde nach Beginn der CPR von einem Elektroenzephalogramm (EEG), einer Technologie zur Aufzeichnung der Gehirnaktivität mit Elektroden erfasst wurde, zur Normalität oder fast Normalität zurückkehrten. Die Patienten zeigten Spitzen in den Gamma-, Delta-, Theta-, Alpha- und Betawellen, die mit höheren geistigen Funktionen in Verbindung gebracht werden.
Die Autoren der Studie berichten, dass Überlebende schon lange von gesteigerter Wahrnehmung und kraftvollen, klaren Erlebnissen berichtet haben. Dazu gehörten die Wahrnehmung einer Trennung der Seele vom Körper, die Beobachtung von Ereignissen ohne Schmerz oder Unwohlsein und eine bedeutsame Bewertung ihrer Handlungen und Beziehungen. Die neuen Erkenntnisse zeigen, dass sich diese Todeserfahrungen von Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Illusionen, Träumen oder durch die CPR verursachtem Bewusstsein deutlich unterscheiden.
Die Autoren und Autorinnen der Studie vermuten, dass das sterbende Gehirn natürliche hemmende Systeme ausschaltet. Diese Prozesse, die als Enthemmung bekannt sind, könnten Zugang zu „neuen Dimensionen der Realität“ eröffnen, einschließlich der sog. klaren Erinnerung an alle gespeicherten Erinnerungen von der frühen Kindheit bis zum Tod, die dann aus moralischer Sicht bewertet werden. Obwohl niemand den evolutionären Zweck dieses Phänomens kennt, öffne es „die Tür zu einer systematischen Erforschung dessen, was geschieht, wenn eine Person stirbt“, so die NYU-Pressemitteilung.
„Obwohl Ärzte lange Zeit geglaubt haben, dass das Gehirn etwa 10 Minuten nachdem das Herz aufgehört hat, es mit Sauerstoff zu versorgen, dauerhafte Schäden erleidet, zeigt unsere Arbeit, dass das Gehirn Anzeichen einer elektrischen Erholung noch lange während der laufenden CPR zeigen kann“, erklärt Studienleiter Prof. Sam Parnia. „Dies ist die erste große Studie, die zeigt, dass diese Erinnerungen und Veränderungen in den Gehirnwellen Anzeichen für universelle, geteilte Elemente sogenannter Nahtod-Erfahrungen sein können.“
Zum Thema
Diese Erfahrungen bieten einen Einblick in eine reale, aber wenig verstandene Dimension des menschlichen Bewusstseins, die sich mit dem Tod offenbart, fügte Dr. Parnia hinzu, der auch Direktor für kritische Versorgung und Reanimationsforschung an der NYU Langone ist. Die Ergebnisse „können auch bei der Gestaltung neuer Methoden zur Wiederbelebung des Herzens oder zur Verhinderung von Hirnverletzungen helfen und Auswirkungen auf Transplantationen haben.“
Die Autoren der Studie schlussfolgern, dass die bisherige Forschung weder die Realität noch die Bedeutung der Erfahrungen und Behauptungen der Patienten in Bezug auf das Bewusstsein im Zusammenhang mit dem Tod bewiesen aber auch nicht widerlegt hat. Sie sagen, dass die rund um den Tod erinnerte Erfahrung weitere empirische Untersuchungen rechtfertigt und planen selbst Studien, die Biomarker des klinischen Bewusstseins genauer definieren und die langfristigen psychologischen Auswirkungen der Wiederbelebung nach einem Herzstillstand überwachen sollen.
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Recherchequelle: NYU
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