Erst komplexe Gesellschaften schufen mächtige Götter – nicht umgekehrt
Wien (Österreich) – Es ist wie die Frage Huhn oder Ei: Schon lange streiten sich Sozial- und Religionswissenschaftler darüber ob mächtige Götter erst von komplexen Gesellschaften erschaffen wurden oder ob es im übertragenen Sinn diese Götter, bzw. die Regeln ihrer Religionen waren, die große Kulturen erst möglich machten. Anhand einer aktuellen Studie glaubt ein internationales Wissenschaftlerteam nun mit Hilfe von Big-Data eine Antwort auf diese Frage gefunden zu haben.
Wie das Team um Harvey Whitehouse vom Magdalen College an der University of Oxford aktuell im Fachjournal „Nature“ (DOI: 10.1038/s41586-019-1043-4) berichtet, haben sie die Rolle „mächtiger Götter“ im Bezug auf die Entstehung komplexer und großer Gesellschaften untersucht. Die in der Studie als „Big Gods“ bezeichneten mächtigen Göttergestalten definieren die beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen als moralisierende Gottheiten, die ethische Gesetzesüberschreitungen bestraften.
Im Gegensatz zu meist vorherrschenden Theorien, kommen die Forscher nun zu dem Schluss, dass der Glaube an diese „Big Gods“ eine Konsequenz und nicht die Ursache für die Entstehung und Entwicklung komplexer Gesellschaften und Kulturen waren.
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Grundlage der statistischen Auswertung und Analyse war die „Seshat Global History Databank“, die mit derzeit mehr als 300.000 Einträgen über soziale Komplexität, Religion und weitere Merkmale von mehr als 500 alten Kulturen der vergangenen 10.000 Jahre als umfangreichste Sammlung historischer und prähistorischer Daten gilt.
Hintergrund
Noch bis vor kurzem war es für Wissenschaftler nahezu unmöglich, zwischen Ursache und Wirkung in sozialen Theorien zu unterscheiden, da standardisierte quantitative Daten aus der Weltgeschichte nicht zusammengefasst waren. Um dieses Problem zu beheben, haben Whitehouse und Turchin gemeinsam mit Pieter Francois von der Oxford University 2011 die „Seshat Global History Databank“ ins Leben gerufen. Das multidisziplinäre Projekt integriert und kombiniert die Expertisen von Historikern, Anthropologen, Archäologen, Sozialwissenschaftler, Mathematikern sowie Datenwissenschaften zu einer Open-Access-Datendank zur sozialen Komplexität, religiöser Glaubensvorstellungen und -praktiken, beginnend im neolithischen Anatolien im Jahr 9600 v.Chr. Die Komplexität einer Gesellschaft kann dabei anhand von sozialen Eigenschaften wie Population, Territorium und der Komplexität von konstitutionellen Institutionen und Informationssystemen. Religiöse Daten beinhalten dabei etwa den Glauben an das Übernatürliche, die Durchsetzung der Gegenseitigkeit, Fairness, Loyalität und die Frequenz und Standardisierung religiöser Rituale. Die Seshat-Datenbank erlaubt es dabei Forschern und Forscherinnen Hunderte von Variablen zur sozialen Komplexität, Religion, Kriegsführung, Landwirtschaft und anderen Merkmalen der menschlichen Kultur und Gesellschaft auszuwerten und zu analysieren, wie sich diese Faktoren durch Raum und Zeit hinweg Jahrhunderte verändert haben. „Mit der nun einsatzfähigen Datenbank können wir nun erstmals eine lange Liste von Theorien zur Kulturgeschichte der Menschheit überprüfen“, zeigt sich Francois begeistert. „darunter eben auch konkurrierende Theorien darüber, wie und warum die Menschen auch im großen Maßstab gemeinschaftliche Strukturen entwickelt haben.“
„Seit Jahrhunderten streiten sich Wissenschaftler über die Frage, warum Menschen – im Gegensatz zu allen anderen Tieren – in großen Gruppen genetisch nicht miteinander verwandter Individuen miteinander kooperieren“, erläutert Peter Turchin von der University of Connecticut, einer der Mitautoren der Studie. Als Antworten auf die Frage wurden bislang Faktoren die Landwirtschaft, Kriegsführung oder Religion als treibende Kräfte genannt.
Eine bekannte Theorie, die als die Hypothese der moralisierenden Götter bekannt ist, geht davon aus, dass religiöser Glauben der Schlüssel bzw. Auslöser für die Entstehung komplexer Sozialstrukturen war (…GreWi berichtete). Laut dieser Theorie gehen Menschen sehr viel leichter Kooperationen miteinander ein, wenn sie auch an strafende Götter glauben, die sie bestrafen, wenn sie sich gemeinsamen Regeln nicht unterwerfen
„Zu unserer eigenen Überraschung widersprechen die Daten aber dieser Hypothese“, berichtet Whitehouse und führt dazu weiter aus: „In nahezu jeder Weltregion, aus der uns ausreichend Daten vorliegen, zeigt sich die Tendenz dazu, dass moralisierende Götter den komplexen Gesellschaften sozusagen folgten und nicht bereits vor dem Eisnetzen der Steigerung der sozialen Komplexität dieser Gesellschaften schon vorhanden waren.“
Es zeige sich sogar, dass standardisierte Rituale meist schon hunderte von Jahren vor jenen Göttern existierten, die sich um die Moral der Menschen scherten: „Solche Rituale ließen als eine Art sozialer Kit eine kollektive Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen und die Menschen gemeinschaftlich handeln. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass kollektive Identititäten also wichtiger als religiöser Glauben sind, um Gesellschaften entstehen zu lassen“, so Whitehouse.
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