Extrem energiereiche Neutrino-Signale widersprechen Standardmodell der Teilchephysik

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Das Neutrino-Observatorium „IceCube“ in der Antarktis mit einer grafischen Darstellung des ungewöhnlich hochenergetischen Signals.
Copyright: icecube.wisc.edu

State College (USA) – Zwei mit einer Ballonsonde eingefangene Teilchenspuren waren nicht nur um ein Vielfaches energiereicher als alle bislang registrierten Spuren, sie kamen offenbar auch von unten – also durch die Erde und widersprechen damit auch allen Vorhersagen des Standardmodells, bestätigen aber frühere Messungen mit dem Neurtrinodetektor IceCube. Stammen die Signale also von einem bislang gänzlich unbekannten Partikel oder Prozess?

Wie das Team um Derek Fox von der Penn State University vorab via ArXiv.org berichtet, besitzt keines der vom Standardmodell der Teilchenphysik vorhergesagten Teilchen die besagte Kombination aus Energie und Durchdringungskraft.

Hintergrund
Neutrinos sind Elementarteilchen, die fast ohne Wechselwirkung durch die Materie reisen und existieren als drei verschiedene Typen: als Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos und als deren jeweilige Antiteilchen (den Antineutrinos). Pro Sekunde rasen unbemerkt Billionen von Neutrinos durch unseren Körper, treffen auf die Erdoberfläche und durchdringen alles auf dem und den Planeten selbst nahezu ungehindert. Sie entstehen durch radioaktive Zerfälle in der Sonne und allen anderen Sternen und in Folge anderer kosmischer Ereignisse wie etwa in natürlichen kosmischen Teilchenbeschleunigern wie Sternenexplosionen (Supernovae) und den Materiestrudeln gigantischer Schwarzer Löcher gemeinsam mit den elektrisch geladenen Atomkernen der kosmischen Teilchenstrahlung. Anders als diese Atomkerne werden die elektrisch neutralen Neutrinos auf ihrem Weg durchs All aber nicht von kosmischen Magnetfeldern abgelenkt, so dass ihre Ankunftsrichtung direkt zu ihrer Quelle zurückweist.

Da die Energie eines Neutrinos mit seinem virtuellen Durchmesser aber abnimmt und so die Wahrscheinlichkeit für eine Kollision mit einem Atomkern zunimmt, sollten es extrem schnelle und zugleich energiereiche Neutrinos nur sehr selten schaffen, die Erde unbeeinflusst zu durchdringen und auf diese Weise sozusagen von der anderen Seite der Erde aus ein Signal auszulösen.

Doch genau von einer deartigen Messung berichteten Wissenschaftlern der „The IceCube Collaboration“, als die Zerfallsspur eines Teilchens mit rund 2,6 Petaelektronenvolt (PeV) und damit deutlich über den bisherigen Messungen, detektiert wurde. Seither rätseln Wissenschaftler, welches Teilchen dieses Signal ausgelöst haben könnten (…GreWi berichtete).

Das Antennenmodul der „Antarctic Impulsive Transient Antenna“ (ANITA).
Copyright: ps.uci.edu

In ihrem aktuellen Artikel berichten Fox und Kollegen nun von der Detektierung zweier weiterer Neutrino-Signale mit der Ballonantenne „Antarctic Impulsive Transient Antenna“ (ANITA) in rund 35 Kilometren Höhe über der Antarktis.

Demnach erreichten die beiden mit ANITA gemessenen Ereignisse Energiewerte von unvorstellbaren 0,6 Exaelektronenvolt (EeV) – waren also um das 200-fache stärker als die IceCube-Signale. Zudem kamen beiden Signale von deutlich unterhalb des Horizonts und  werden von den Forschern daher als Schauer kosmischer Strahlung interpretiert, die sozusagen von unten durch die Erde gekommen waren.

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Somit stammen offenbar auch diese beiden Teilchenspuren von Partikeln, die es eigentlich gar nicht geben dürfte, bzw. die wegen ihrer gewaltigen Energie den Erdkörper gar nicht hätten durchdringen dürfen.

Tatsächlich sei „kein Teilchen des Standardmodells bekannt, dass bei diesen Energien die Passsage durch die Erde überstehen dürfte. Zwar wäre es möglich, dass ein Tau-Neutrino bei einer Erddurchquerung durch Kollision mit einem Atomkern ein energiereiches Tau-Lepton erzeugen könnte, doch sei die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Teilchen derartig hohe Energien erreicht, extrem gering.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein anhand des Standardmodells bekanntes Teilchen die jetzt gemessenen Signaturen aufweisen könnte, berechneten die Forscher um Fox auf weniger als 1:3,5 Millionen. „Damit haben wir Szenarios, wie sie vom Standardmodell der Teilchenphysik vorhergesagt werden mit einem Konfidenz-Niveau von 7 und 5,8 Sigma ausgeschlossen.“

In der Folge dieser Erkenntnis vermuten die Wissenschaftler, dass sowohl die IceCube-Messungen als auch jene mit ANITA ein Hinweis auf physikalische Vorgänge jenseits des physikalischen Standardmodells sind und spekulieren schon jetzt, dass es sich um einen Beleg für sog. Supersymmetrie handeln könnte – also für bislang unbekannte exotische, schwere Gegenstücke bekannter Teilchen.

Tatsächlich stimmen laut Fox und Kollegen denn auch die Eigenschaften des postulierten Nichtstandard-Teilchens mit denen überein, wie sie für das S-Tau-S-Lepton in einigen Modellen zur Supersymmetrie vorhergesagt werden. Hierbei handelt es sich um das zweitleichteste Supersymmetrie-Teilchen. Entstehen könnte es, wenn extrem energiereiche Neutrinos mit Atomkernen interagieren: „Ein S-Tau könnte die Erde mit minimalen Energieverlusten passieren und würde dann zu einem Tau-Lepton mit Energien im Exa- bis Petaelektronenvolt-Bereich zerfallen – also genau in jene Teilchensignaturen wie sie von IceCube und ANITA gemessen wurden.“

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