Fossilienfund: „Drachenmenschen“ könnten näher mit modernen Menschen verwandt sein als Neandertaler
Shijiazhuang (China) – Die Analyse eines nahezu perfekt erhaltenen, auffallend großen Frühmenschenschädels stellt die bisherige Vorstellung vom Neandertaler als der dem Homo sapiens am nächsten verwandten Frühmenschenart in Frage. Tatsächlich könnte der als „Homo longi“ (Drachenmensch) bezeichnete Frühmensch der nächste Verwandte des modernen Menschen sein.
Wie die Forschenden um Professor Qiang Ji in drei Fachartikeln im Fachjournal „The Innovation“ (DOI: 10.1016/j.xinn.2021.100131, 10.1016/j.xin.2021.10032, 10.1016/j.xinn.2021.100130) berichten, wurde der Schädel bereits in den 1930-er Jahren in der Stadt Harbin in der chinesischen Provinz Heilongjiang entdeckt und befindet sich im Geowissenschaftlichen Museum der Hebei GEO University. Der Fund habe das Potenzial, unser Verständnis der menschlichen Evolution zu verändern: „Das Harbin-Fossil ist eines der vollständigsten menschlichen Schädelfossilien der Welt. Das Fossil hat viele morphologische Details bewahrt, die für das Verständnis der Evolution der Gattung Homo und des Ursprungs des Homo sapiens entscheidend sind.“
Die Artbezeichnung als „Homo longi“ setzt sich aus der Gattungsbezeichnung „Homo“ (Mensch) und dem Epitheton „longi“ zusammen, der auf Long Jiang (wörtlich: Drachenfluss) verweist und wiederum ein regional üblicher Namen für die Provinz Heilongjiang darstellt, in der der Fundort liegt.
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Wie die Autoren der Artikel berichten, konnte der gewaltige Schädel ein Gehirn aufnehmen, das in der Größe dem modernen Menschen vergleichbar war, hatte aber größere, fast quadratische Augenhöhlen, dicke Brauenkämme, einen breiten Mund und übergroße Zähne.
„Der Schädel von Harbin weist zwar typisch archaische menschliche Merkmale auf, stellt jedoch eine mosaikartige Kombination aus primitiven und abgeleiteten Merkmalen dar, die sich von allen anderen zuvor bekannten Homo-Arten abheben“, so Ji. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen glauben, dass der Schädel von einem etwa 50 Jahre alten männlichen Individuum stammt, das in einer bewaldeten Auenlandschaft als Teil einer kleinen Gemeinschaft lebte. „Wie der Homo sapiens, so jagten auch die Drachenmenschen Säugetiere und Vögel, sammelten Obst und Gemüse und fingen vielleicht sogar Fische“, vermutet Mitautor Xijun Ni, Professor für Primatologie und Paläoanthropologie an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften und der Hebei GEO University.
Angesichts der Tatsache, dass das Harbin-Individuum wahrscheinlich sehr groß war und aufgrund des Fundortes, vermuten die Forscher, dass Homo longi möglicherweise an raue Umgebungen angepasst wurde, sodass sie sich in ganz Asien ausbreiten konnten.
Anhand einer Reihe geochemischer Analysen datierten Ji, Ni und ihre Teams das Harbin-Fossil auf mindestens 146.000 Jahre und ordneten es damit in das mittlere Pleistozän ein, eine dynamische Ära der menschlichen Migration. Sie vermuten zudem, dass sich H. longi und H. sapiens in dieser Zeit begegnet sein könnten: „Wir sehen in dieser Zeit mehrere evolutionäre Abstammungslinien von Homo-Arten und -Populationen in Asien, Afrika und Europa. Wenn Homo sapiens also tatsächlich so früh nach Ostasien gelangte, könnte es auch zur Interaktion mit H. longi gekommen sein. Da wir nicht wissen, wann die Harbin-Gruppe der ‚Drachenmenschen‘ verschwunden ist, könnte es auch spätere Begegnungen gegeben haben“, sagt der Autor Chris Stringer, Paläoanthropologe am Nature History Museum in London.
Außerdem fest, dass der Homo longi einer unserer engsten Verwandten der Homininen ist, noch enger mit uns verwandt als der Neandertaler. „Es wird allgemein angenommen, dass der Neandertaler zu einer ausgestorbenen Linie gehört, die der nächste Verwandte unserer eigenen Art ist. Unsere Entdeckung legt jedoch nahe, dass die neue Linie, die wir identifiziert haben, zu der der Homo longi gehört, die eigentliche Schwestergruppe von H. sapiens ist“.
Die nun vorgelegte Rekonstruktion des menschlichen Lebensbaums legt auch nahe, dass der gemeinsame Vorfahre, den wir mit den Neandertalern teilen, noch weiter zurückliegt. „Die Divergenzzeit zwischen H. sapiens und den Neandertalern könnte in der Evolutionsgeschichte noch tiefer zurückliegen als allgemein angenommen, über eine Million Jahre„, sagt Ni. „Wenn das stimmt, haben wir uns wahrscheinlich ungefähr 400.000 Jahre früher vom Neandertaler entfernt, als die Wissenschaft bislang dachte.
Vor diesem Hintergrund, so sind sich die Autoren der Studie einig, haben die Erkenntnisse aus den Analysen des Harbin-Schädels das Potenzial, wichtige Elemente der menschlichen Evolution neu zu beschreiben. Ihre Analyse der Lebensgeschichte des Homo longi legt nahe, dass es sich um starke, robuste Menschen handelte, deren mögliche Interaktionen mit den Homo sapiens wiederum unsere Geschichte geprägt haben könnten: „Insgesamt liefert uns der Harbin-Schädel zahlreiche Ansätze, um die Homo-Diversität und die evolutionären Beziehungen zwischen den verschiedenen Homo-Arten und -Populationen zu verstehen“, sagt Ni abschließend und ist sich sicher: „Wir haben unsere lange verlorene Schwester-Abstammungslinie gefunden.“
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Recherchequelle: Cell Press
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