Neandertaler-Vorfahren: Anthropologen finden unbekannte frühe Menschenart in der Levante

Copyright: Tel Aviv University
Tel Aviv (Israel) – An der israelischen Ausgrabungsstätte Nesher Rama haben Anthropologen die Überreste einer bislang unbekannten frühen Menschenart entdeckt. Vermutlich handelt es sich dabei um Vorfahren der Neandertaler. Der Fund stellt die bisherige Vorstellung von der Herkunft der Neandertaler infrage, könnte zugleich aber auch einige wichtige offene Fragen klären.
Wie das Team um Prof. Israel Hershkovitz von der Tel Aviv University und Dr. Yossi Zaidner von der Hebrew University of Jerusalem aktuell im Fachjournal „Science“ (DOI: 10.1126/science.abh3169) berichtet, weisen die entdeckten Schädelknochen Merkmale von Prä-Neandertaler-Populationen in Europa auf und stellen damit die bisherige Theorie von deren Ursprung in Europa infrage. Anhand des Fundes liegt es nun nahe, dass zumindest einige der Neandertaler-Vorfahren ebenfalls ursprünglich aus der sogenannten Levante, also dem Mittelmeerraum stammen.
Wie es scheint, teilten sich vor 200-100.000 Jahren zwei Menschenarten den dortigen Lebensraum über mehr als 100.000 Jahre. Vermutlich teilten sie auch ihr Wissen und frühe Technologien mit- und untereinander.
Tatsächlich können die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nun zeigen, das ältere Funde jüngeren Datum in Israel, wie etwa der in den Qafezh-Höhlen entdeckte Schädel, nicht zu einer archaischen Homo sapiens-Art, sondern zu einer Gruppe gehörte, die vermischet Merkmale sowohl des Homo sapiens wie auch der nun entdeckte Ramla-Abstammungslinie aufweisen.
Die Forschenden glauben nun, dass der Nesher-Ramla-Mensch die „Quell-Population” der meisten Menschen sein könnte, die im mittleren Pleistozän entstanden. Hinzu vermuten sie, dass diese Gruppe das bislang fehlende Populations-Bindeglied darstellt, das sich mit Homo sapiens vermischte, als diese vor rund 200.000 Jahren in der Region ankamen. Zugleich handele es sich bei der Population offenbar sowohl um die Vorfahren der europäischen Neandertaler wie auch um die archaischer Menschengruppen in Asien.
Die Entdeckung dieser neuen Menschenart sei deshalb von so großer wissenschaftlicher Bedeutung, weil frühere Entdeckungen nun einen Sinn ergeben, erklärt Hershkovitz: „Zuvor hatten die meisten Forscher angenommen, dass Neandertaler europäischer Herkunft seien, die sich auf der Flucht vor sich ausbreitenden Gletschern in zwei südwärts wandernde Gruppen aufgeteilt hatten“, fügt Zaidner hinzu. „Jetzt stellt der Fund von Nesher Ramla dieses Bild infrage und legt nahe, dass auch die Vorfahren der europäischen Neandertaler vor 400.000 Jahren und später in der Levante lebten und immer wieder westwärts nach Europa und ostwärts nach Asien migrierten. Tatsächlich legen unsere Ergebnisse sogar nahe, dass die berühmten westeuropäischen Neandertaler lediglich die Reste einer sehr viel größeren Population waren, die einst hier in der Levante lebten und nicht umgekehrt.“
Obwohl anhand des neuen Fundes keine DNA extrahiert werden konnte, könnten diese auch die Frage beantworten, wie Gene des Homo sapiens in Neandertaler-Populationen gelangte, die bereits in Europa lebten, lange bevor der Homo sapiens dort ankam.
Bislang vermuteten Genetiker anhand der DNA europäischer Neandertaler, dass es eine Neandertaler-ähnliche Population gegeben haben müsse, die sie als „Population X“ bezeichneten und die sich vor mehr als 200.000 Jahren mit Homo sapiens vermischt hatte.
Der Fund von Nesher Ramla könnte nun genau diese Population darstellen. Darüber hinaus vermuten die Autoren des aktuellen Fachartikels, dass der Fund nicht die einzige bislang unbekannte Menschenart der Levante sein könnte. Schon frühere Funde im heutigen Israel stellten aufgrund ihrer einzigartigen Merkmale Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vor ein Rätsel – etwa die Funde in der Tabun-Höhle mit einem Alter von rund 160.000 Jahren, in der Zuttiyeh-Höhle (250.000 Jahre) und in der Qesem-Höhle mit einem Alter von sogar 400.000 Jahre. Sie alle könnten zur selben Population wie der Schädel von Nesher Ramla gehören.

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Am Schnittpunkt zwischen Afrika, Europa und Asien könnte das heutige Israel, die einstige Levante, einen Schmelztiegel unterschiedlicher Menschengruppen gewesen sein, die sich hier vermischten und später in der alten Welt verteilten. „Hier in Nesher Ramla könnte ein wichtiges Kapitel in der menschlichen Evolution geschrieben worden sein.”
„Auch Prof. Gerhard Weber von der der Universität Wien vermutet nun, dass Europa nicht das einzige und exklusive Refugium der Neandertaler war, von dem sie sich nach Westasien ausbreiteten. „Wir glauben, dass es einen vielfältigen Austausch und Eurasien gab und dass die Levante der Ausgangspunkt oder zumindest der Brückenkopf dieses Prozesses war.”
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Recherchequelle: Tel-Aviv University
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