Lausanne/Zürich (Schweiz) – Der bis heute mysteriöse Tod einer erfahrenen Bergwandergruppe im Ural im Februar 1959 sorgt bis heute für Rätselraten und Spekulationen darüber, was den Studenten damals zugestoßen und für die bizarre Situation am „Djatlow-Pass“ verantwortlich war, in der sowohl das Zeltlager als auch die Leichen der neun Wanderer vorgefunden wurde. Im Gegensatz zu teils exotischen Hypothesen favorisiert die Lokalregierung der Region einen Lawinenabgang als Erklärung. Zwei neue Modelle zu Lawinen und deren Auswirkungen auf den menschlichen Körper stützen nun dieses Szenario.
Professor Johan Gaume von der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) hatte bis Anfang Oktober 2019 noch nie etwas vom „Unglück am Djatlow-Pass“ gehört und erinnert sich an einen Anruf aus den USA, der das änderte und die Grundlage der nun veröffentlichten Studie legte: „Die Anruferin, eine Journalistin der New York Times, bat ihn um seine fachliche Meinung zu einer Tragödie, die sich 60 Jahren zuvor im nördlichen Ural in Russland ereignet hatte und heute als das Unglück am Djatlow-Pass bekannt ist. Die russische Generalstaatsanwaltschaft hatte den Fall kurz zuvor aus den Tiefen der sowjetischen Archive hervorgeholt“ (…GreWi berichtete). (…) „Gleich nach dem Anruf der New York Times kritzelte ich eine Reihe Gleichungen und Zahlen an die Tafel, um aus rein mechanischer Sicht den möglichen Ablauf der Ereignisse zu skizzieren. Bei unserem nächsten Telefonat sagte ich der Journalistin, dass wahrscheinlich eine Lawine die Schlafenden im Zelt überrascht hat.
Professor Gaume ist Leiter des Labors für Schnee- und Lawinensimulation (Snow and Avalanche Simulation Laboratory, SLAB) und Gastwissenschafter am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL)
Hintergrund
Nachdem die Gruppe auch bis zum 20. Februar 1959 von ihrer Tour nicht zurückgekehrt war, begab sich eine Gruppe von freiwilligen Studenten und Lehrern – später auch mit Unterstützung von Armee und Miliz mit Flugzeugen und Hubschraubern – auf die Suche nach den Vermissten.Am 26. Februar erreichten die Rettungsteams das verlassene Camp der Gruppe. Das Zelt der Skiwanderer war stark beschädigt. Eine Spur von Fußabdrücken führte hangabwärts zur Grenze eines nahegelegenen Waldes, an dessen Rand der Suchtrupp die Überreste eines Feuers sowie die ersten beiden Leichen entdeckten. Beide waren barfuß und nur mit Unterwäsche bekleidet. In wenigen hundert Metern Entfernung fanden sich dann auch drei weitere Leichen. Die Leichen der restlichen Mitglieder der Gruppe wurden erst zwei Monate später unter meterhohem Schnee entdeckt.
Untersuchungen der Todesfälle kamen damals zu dem Ergebnis, dass die Wanderer ihr Zelt von innen heraus aufgeschlitzt, dieses barfuß und nur leicht bekleidet verlassen hatten. An den Leichen fanden sich keine Anzeichen eines Kampfes. Dennoch wiesen zwei Opfer Schädelbrüche auf, zwei andere hatten gebrochene Rippen, und einem weiblichen Opfer fehlte sogar die Zunge. Weitere Untersuchungen zeigten, dass die Kleider radioaktiv verseucht waren, während eine Quelle dieser Strahlung vor Ort nicht ausgemacht werden konnte. Zudem berichteten Angehörige, allerdings erst nach den Beerdigungen, dass die Haut der jungen Opfer tief gebräunt ausgesehen habe und die Haare komplett grau gewesen seien.
Sowjetische Untersucher legten sich abschließend nur darauf fest, dass “höhere Gewalt” zum Tod der neun Wanderer führte. Der Zugang zu dem Gebiet wurde für drei Jahre nach dem Unglück gesperrt.
Damit stimmt Gaume grundsätzlich dem jüngsten Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft zu, der das Szenario eines Lawinenabgangs zeichnet, vor dem sich die Gruppe durch spontanes Verlassen ihrer Zelte jedoch in unzureichend warmer Kleidung – teilweise Barfuß – bei Temperaturen von minus 30-40 Grad Celsius in Sicherheit bringen wollten. Nachdem die Gruppe zunächst einen Unterschlupf gefunden hatte, musste sie dringend zurück zu den schützenden Zelten, die sie jedoch bei extrem schlechter Sicht nicht mehr wiederfanden.
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Trotz der übereinstimmenden Hypothese ließ die Geschichte den Lawinenexperten nicht mehr los und er schließlich Dr. Alexander Puzrin, Professor und stellvertretender Leiter des Instituts für Geotechnik der ETH Zürich.
Gemeinsam durchkämmten beiden Wissenschaftler die Archive, die der Öffentlichkeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zugänglich gemacht worden waren, kontaktierten Kollegen und Experten zum Fall und entwickelten so nach und nach ein analytisches Modell, das die Auswirkungen von Lawinen auf den menschlichen Körper untersuchte und ein numerisches Modell zur Rekonstruktion jener Lawine, der die Expeditionsteilnehmer am Todesberg zum Opfer gefallen sein könnten, mit dem die zum Auslösen einer Lawine nötige Zeit kalkuliert wurde.
„Das Rätsel vom Djatlow-Pass gehört heute zur russischen Folklore. Als ich meiner Frau erzählte, woran ich arbeite, war sie zutiefst beeindruckt“, erläutert Puzrin in der Pressemitteilung der ETH und führt darin weiter aus: „Das Projekt hat mich sehr gereizt, da ich zwei Jahre zuvor mit der Arbeit an Schneebrettlawinen begonnen hatte. Mein Hauptforschungsgebiet sind Erdrutsche. Ich untersuche, was genau passiert, wenn es zu Zeitverzögerungen zwischen dem Auslöser und dem tatsächlichen Abgang eines Erdrutsches kommt.“
In ihren aktuell im Nature-Fachjournal „Communications Earth & Environment“ (DOI: 10.1038/s43247-020-00081-8) veröffentlichten Ausführungen kommen Gaume und Puzrin zu der Schlussfolgerung, dass die Gruppe für ihr Zelt in der Schneedecke des Hangs eine Grube aushob. Die Lawine selbst ging aber erst viele Stunden später ab.
Zum Thema
Letzterer Umstand schließe somit eine Lücke, die bislang Kritiker der Lawinentheorie an dieser zweifeln ließen: „Tatsächlich spricht zunächst auch einiges gegen diese Theorie“, erläutern die beiden Forscher: „So fand der Suchtrupp weder eindeutige Beweise für eine Lawine noch deren Ablagerung, und mit weniger als 30 Grad ist die durchschnittliche Hangneigung oberhalb des Lagers nicht steil genug für eine Lawine. Wenn es eine Lawine gegeben hat, dann ging diese außerdem mindestens neun Stunden nach dem Anlegen des Zeltplatzes ab. Und schließlich sind die an einigen Leichen gefundenen Brust- und Schädelverletzungen nicht typisch für eine Lawine.“
Mithilfe von Daten zur Reibung zwischen Schneeschichten und der lokalen Topografie glauben Puzrin und Gaume nun jedoch zeigen zu können, dass eine kleine sogenannte Schneebrettlawine auch auf einem entsprechend flacheren Hang abgehen könnte, ohne große und typischen Spuren zu hinterlassen: „Anhand von Computersimulationen zeigen wir, dass eine Schneebrettlawine ähnliche Verletzungen wie die hervorrufen kann, die an einigen der Toten gefunden wurden.“
Einer der hierbei wichtigsten Faktoren in der Nacht der Tragödie waren demnach sogenannte katabatische Winde – kalte Luft, die unter dem Einfluss der Schwerkraft hangabwärts weht: „Diese Winde könnten Schnee verfrachtet haben, der sich dann aufgrund eines bestimmten Geländemerkmals, das der Gruppe nicht aufgefallen war, oberhalb des Zelts ansammelte.“
Aus diesem Szenario ergibt sich dann auch, dass die Gruppe tragischerweise selbst Schuld an ihrem Unglück gewesen sein könnte: „Hätten sie den Hang nicht angeschnitten, wäre nichts passiert“, resümieren Puzrin und Gaume. „Das war der Initialauslöser, hätte allein aber nicht ausgereicht. Wahrscheinlich verfrachteten die katabatischen Winde den Schnee, der sich langsam aufhäufte. Irgendwann bildete sich dann möglicher-weise ein Riss und breitete sich aus. Und am Ende ging dann ein Schneebrett ab.“
Auch die Zeitdifferenz zwischen dem vermuteten Anschnitt des Hangs für den Zeltplatz und dem Abgang der Lawine kann der Artikel erklären: „Die früheren Ermittlungen konnten nicht erklären, wie mitten in der Nacht eine Lawine ausgelöst werden kann, wenn es am Abend davor nicht geschneit hat. Wir brauchten eine neue Theorie, die genau das erklärt.“
Zugleich zeigen sich die beiden Wissenschaftler trotz ihrer empirischen Aufarbeitung aber auch vorsichtig mit ihren Erkenntnissen und betonen abschließend, dass dieses Unglück in weiten Teilen ein Rätsel bleibt: „Tatsache ist, dass niemand wirklich weiß, was in dieser Nacht geschah. Aber wir haben starke quantitative Beweise, die die Lawinentheorie untermauern.“
Über dei neuen Einblicke in die möglichen Umstände des „Unglücks vom Djatlow-Pass“ hinaus werden zukünftig die beiden erstellten Model dazu genutzt, mehr über Lawinen und die damit verbundenen Risiken zu erfahren.
WEITERE MELDUNGEN ZUM THEMA
Staatsanwalt präsentiert Erklärung für Djatlow-Pass-Unglück 12. Juli 2020
60. Jahrestag: Russische Behörden rollen Djatlow-Pass-Unglück neu auf 4. Februar 2019
Quelle: ETH Zürich
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