Neue Studie skizziert Szenario eines natürlichen Ursprungs des interstellaren Meteors IM1
Cambridge (USA) – Ein 2014 über Papua-Neuguinea detektierter Meteor offenbarte Eigenschaften, die auf eine extrasolare Herkunft des Mutterkörpers hindeuteten. Im vergangenen Sommer konnten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen um den Harvard-Astronom Prof. Avi Loeb am Ozeanboden kugelförmige Fragmente einsammeln, die sie als Reste des Eintritts dieses Meteoriten in die Erdatmosphäre deuten. Nachdem erste Analysen dieser kleinen Kugeln tatsächlich deren interstellare Herkunft zu bestätigen scheinen, skizziert eine neue Studie nun das Szenario, wie die Sphärulen auch von einem natürlichen interstellaren Meteor passen können.
Wie der die Suchexpedition nach den Trümmern von MI1 leitende Avi Loeb gemeinsam mit Michael McLeod, einem Postdoktoranden am Zentrum für Astrophysik der Harvard University und dem Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics, vorab online und in einer kommenden Ausgabe des „The Astrophysical Journal“ berichten, können die Eigenschaften von IM1 auch auf natürliche Weise durch Trümmer von erdartigen Planeten auf stark exzentrischen Umlaufbahnen um Zwergsterne erklärt werden, die durch sogenannte Gezeitendisruption zerstört und deren Trümmer dann teilweise aus ihren Heimatsystemen herauskatapultiert wurden.
Hintergrund
Bei Zwergsternen handelt es sich um die häufigste Kategorie von Sternen in der Milchstraße und besitzen etwa ein Zehntel der Masse unserer Sonne. Ein im wahrsten Sinne des Wortes naheliegendes Beispiel ist der unserem Sonnensystem nächstgelegene Stern, Proxima Centauri. 4,25 Lichtjahre von der Erde entfernt, besitzt der Zwergstern eine Masse von nur 0,12 Sonnenmassen und wird von drei erdähnlichen Planeten umkreist: Proxima b mit etwa 1,3 Erdmassen, Proxima c mit etwa 7 Erdmassen und Proxima d mit etwa 0,3 Erdmassen – insgesamt 8,6 Erdmassen. Auch bei TRAPPIST-1 handelt es sich um einen nahen Zwergstern mit 0,09 Sonnenmassen in einer Distanz von 39,5 Lichtjahren. Um diesen Stern wurden sieben erdähnliche Planeten gefunden, die insgesamt 6,4 Erdmassen ausmachen.
In Planetensystemen um Zwergsterne kommt es durch Schwerkraftwechselwirkung der dortigen Planeten auch zur Zerstörung erdartiger Planeten. Deren Trümmer werden entweder um den herum angesammelt (akkretiert) oder mit hoher Geschwindigkeit ins All geschleudert, könnten so durch diese Gezeitendisruption auch in Richtung Erde gelangen und hier mit den für MI1 beobachteten Geschwindigkeiten ankommen.
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„Um sich vorzustellen, wie der Export von interstellaren Gesteinsbrocken zur Erde ausgelöst werden könnte, denken Sie an die Gezeitenkräfte des Mondes“, erläutert Loeb in einem Beitrag auf Medium.com und führt dazu weiter aus: „Diese Kräfte können Wasser in den Ozeanen im Vergleich zum Festland auf der Erde bewegen. Ein massiveres Objekt als der Mond könnte genügend Gezeitenkräfte erzeugen, um die Erde in einen Strom von Felsen zu verwandeln, die nicht mehr durch ihre eigene Schwerkraft gebunden sind. Damit dies geschieht, müsste das störende Objekt dichter sein als die Erde. (…) Damit ein erdähnlicher Planet von dem Zwergstern zerstört wird, muss er weniger zweihundert Mal näher an seinen Stern herankommen als die Entfernung der Erde zur Sonne. Dies ist in Planetensystemen um Zwergsterne wahrscheinlich, wenn die Umlaufbahn des erdähnlichen Planeten aufgrund des gravitativen Einflusses eines riesigen äußeren Planeten wie Jupiter oder eines Begleitsterns instabil wird und eine große Exzentrizität entwickelt. Tatsächlich sind solche Nachbarn häufig, so dass die Gezeitendisruption in Planetensystemen um Zwergsterne wahrscheinlich ist.
Die Gezeitendisruption eines erdähnlichen Planeten auf einer stark exzentrischen Umlaufbahn um einen Zwergstern würde einen Strom von Trümmern erzeugen, von denen die Hälfte enger an den Stern gebunden und die andere Hälfte in den interstellaren Raum katapultiert wird. Eine einfache Berechnung zeigt, dass unter generischen Bedingungen die häufigsten Planetensysteme Gesteinsbrocken aus der Kruste eines erdähnlichen Planeten mit einer charakteristischen interstellaren Geschwindigkeit von etwa 60 Kilometern pro Sekunde freisetzen. Diese Brocken legen in einer Sekunde die Strecke zurück, für die Autos auf der Autobahn eine Stunde benötigen! Ihre Geschwindigkeit ist höher als 95 % der zufälligen Geschwindigkeiten von Sternen in der Nähe der Sonne. Erstaunlicherweise wurde diese Geschwindigkeit für den ersten berichteten interstellaren Meteor, IM1, gemessen.“
Auch die Zusammensetzung der kleinen Kugeln, der Sphärulen, die Loeb und Team entlang des Pfades von IM1vor Papua-Neuguinea eingesammelt werden konnten, wiesen eine um 2-3 Größenordnungen erhöhte Fülle an Elementen wie Beryllium, Lanthan und Uran auf, was auf eine extrasolare Zusammensetzung namens „BeLaU“ hindeutet. Im vergleichbaren Sphärulen aus dem Sonnensystem wurden diese Zusammensetzung noch nie zuvor gefunden. „Unsere Expeditionsarbeit legte nahe, dass dies wahrscheinlich durch den Prozess der Differenziation in einem Magma-Ozean-Planeten aus geschmolzenem Gestein verursacht wurde (…GreWi berichtete).
„Die differenzierten Materialien könnten die erhöhte Materialfestigkeit von IM1 erklären, die im Vergleich zu Meteoren des Sonnensystems dadurch entstand, dass IM1 offenbar bei einem weit höheren Stressniveau zerbrach als alle anderen 272 Meteoriten des Sonnensystems, die im CNEOS-Katalog der NASA aufgelistet sind“, so Loeb. „Die vielen engen Vorbeiflüge eines erdähnlichen Planeten um einen Zwergstern auf seinem Weg zu einer Exzentrizität, die schließlich zu seiner Gezeitendisruption des Planeten führt, würden zu periodischem Schmelzen der „Erd“kruste vor der Zerstörung führen. Dieses Schmelzen könnte zur Differenzierung von Elementen führen, wodurch Elemente mit Affinität zu Eisen in den Eisenkern des Planeten sinken würden. Dieser Prozess würde Elemente wie Beryllium, Lanthan und Uran hinterlassen und die „BeLaU“-Zusammensetzung erzeugen, die in den Sphärolithen von IM1 entdeckt wurde. Die ungewöhnlich hohe Materialfestigkeit von IM1 könnte durch die Verfestigung infolge wiederholter Schmelz- und Krustenbildungsphasen und einer verstärkten Elementardifferenzierung im Vergleich zu Planeten des Sonnensystems wie der Erde oder dem Mars entstanden sein, die nur in ihrer frühen Entstehungsphase aufgrund von Bombardements durch andere Objekte einen Magmaozean durchlaufen haben.“
Auch die Anzahl an IM1-ähnlichen Gesteinsbrockens im interstellaren Raum passt laut Loeb zum IM1-Szenario: „Eine einfache Schätzung zeigt, dass die Ausstoßung von etwa zehn Erdmassen pro Zwergstern zu einer Erscheinungsrate eines Meteors einmal pro Jahrzehnt führen würde, was mit der Entdeckung eines einzigen interstellaren IM1 im CNEOS-Meteorkatalog der NASA übereinstimmt, der bislang etwa ein Jahrzehnt lang Beobachtungen von Gesteinsbrocken des Sonnensystems umfasst.“
Bedeutet das nun also, dass IM1 definitiv aus einer natürlichen astrophysikalischen Umgebung stammt und kein von einer anderen Zivilisation hergestellter technologischer Voyager-ähnlicher Meteor ist? Auf diese Frage erläutert Leob: „Wir wissen es nicht sicher. Unsere nächste Expedition in den Pazifik zielt darauf ab, größere Teile von IM1 zu finden und zu überprüfen, ob es sich um Gestein oder ein exotischeres Objekt handelt. Bis wir größere Teile von IM1 finden, werden wir die Herkunft von IM1 nicht mit Sicherheit kennen. Die erhöhte Fülle seltener Elemente könnte auch einen technologischen Zweck erfüllt haben. Zum Beispiel könnte Lanthan aus Halbleitern geschmolzen worden sein und Uran könnte als Brennstoff in einem Spaltreaktor verwendet worden sein. Aber unsere Berechnungen im neuen Artikel bieten einen vernünftigen Kontext zur Erklärung von Gesteinsbrocken entlang des Pfads von IM1. Basierend auf der ersten Expedition wissen wir, wo wir nach diesen Teilen suchen müssen, basierend auf der „Schatzkarte“, die wir in unserem Expeditionsartikel für BeLaU-Sphärolithen erstellt haben.“
Abschließend erklärt Loeb: „Nachdem IM1 identifiziert wurde, argumentierten einige Astronomen, dass es nicht aus dem interstellaren Raum stammt, trotz des offiziellen Schreibens des US Space Command an die NASA, das die interstellare Herkunft von IM1 auf einem Vertrauensniveau von 99,999% bestätigte. Als das Labor von Stein Jacobsen an der Harvard University die einzigartige BeLaU-Zusammensetzung der Sphärolithen entlang des Pfads von IM1 entdeckte, argumentierten dieselben Astronomen, dass die BeLaU-Sphärolithen möglicherweise nicht zu IM1 gehören. Jetzt, da wir eine plausible Quelle für die einzigartige Zusammensetzung, Geschwindigkeit und Population von IM1-ähnlichen Gesteinsbrocken identifiziert haben, könnten diese Astronomen hinzufügen, dass wir nicht sicher wissen, ob IM1 aus dieser Population stammt. Wenn wir große Teile von IM1 mit extrasolarer BeLaU-Zusammensetzung entdecken, die zeigen, dass IM1 zu einer interstellaren Population von Gesteinsbrocken von Zwergsternen gehört, könnten dieselben Astronomen sagen, dass es offensichtlich ist und sie zuerst daran gedacht haben. Nennen Sie mich naiv, aber ich erwarte, dass Beweise letztendlich kindisches Bullying gegen kindliche Neugier eintauschen werden.“
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Recherchequellen: A. Loeb, Medium.com
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