Neue Studie zeigt: ‘Oumuamua war kein Stickstoff-Eisberg
Cambridge (USA) – Seit dem Durchflug des ersten Objekts interstellarer Herkunft durch unser Sonnensystem im Herbst 2017 diskutieren Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kontrovers und hitzig über die Natur des Objekts mit der Bezeichnung ‘Oumuamua. Dies nicht zuletzt deshalb, weil der Harvard-Astronom Prof. Avi Loeb in dem Objekt ein mögliches außerirdisches Artefakt vermutet. Dies, so Loeb, könne die Eigenschaften des Objekts am besten erklären. Kritiker hingegen zeigen sich empört. Die bislang stärkste Alternativerklärung für ‘Oumuamua können Wissenschaftler nun jedoch widerlegen. Der erste als solcher erkannte interstellare “Besucher” unseres Sonnensystems war demnach doch kein Stickstoff-Asteroid.
Entdeckt wurde das Objekt erstmals am 19. Oktober 2017 (…GreWi berichtete) und hat beim Verlassen des Sonnensystems im Juni 2018 einen unerwarteten Schub entwickelt, der den eigentlichen Vorherberechnungen nicht nur widersprach, sondern auch nicht durch Schwerkraftinteraktionen mit Körpern des Sonnensystems zu erklären war (…GreWi berichtete). Auch gab es keine Beobachtungen von Ausgasungen des Objekts in Sonnennähe, anhand derer dieses als typischer Komet identifiziert werden konnte (…GreWi berichtete). Für einen gewöhnlichen Asteroiden fehlten wiederum die sonst typischen Eigenschaften und spektralen und thermalen Signaturen.
Statt also bekannter Kometen oder Asteroiden stellten dann im März 2021 der Astrophysiker Steven Desch und der Astronom Alan Jackson von der Arizona State University ihre Hypothese von ‘Oumuamua als Teil eines Pluto-artigen Planeten eines fernen Planetensystems vor. Demnach wäre ʻOumuamua dann ein Fragment der Planetenkruste dieses Planeten und bestünde aus festem Stickstoff. ʻOumuamua wäre also sozusagen ein interstellarer Stickstoff-Eisberg (…GreWi berichtete).
Der Astrophysiker Professor Avi Loeb von der Harvard University und dem Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics (CfA) hingegen, ist nicht zuletzt wegen seines jüngst erschienen Buches „Außerirdisch“ (…GreWi berichtete) nicht nur der bekannteste, sondern auch wissenschaftlich wohl meist respektierte Vertreter der Theorie von ʻOumuamua als technischem Alien-Artefakt. Auf die von Desch und Jackson postulierten Schlussfolgerungen angesprochen, erläuterte Loeb exklusiv gegenüber Grenzwissenschaft-Aktuell.de (GreWi):
„Wenn ʻOumuamua aus Stickstoff bestanden hätte, so sollte es auch Spuren von Kohlenstoff beinhaltet haben, wie sie mit dem Weltraumteleskop „Spitzer“ hätten entdeckt werden können. Das war aber nicht der Fall und es ist sehr unwahrscheinlich, dass sein Objekt aus reinem Stickstoff besteht. Während Wasserstoff, der rund 90 Prozent aller Atome im Universum ausmacht, entsprechend häufig ist, entsteht Stickstoff in Sternen in ähnlichen Mengen wie Kohlenstoff. Wenn man nun also postuliert, dass ʻOumuamua alleinig aus Stickstoff ohne detektierbare Anteile von Kohlenstoff bestand, so müsste ʻOumuamua aus einem Material bestehen, das Stickstoff vom Kohlenstoff getrennt hatte. Ich selbst kenne keinen einfachen Weg, unter den gegebenen Umständen Kohlenstoff von Stickstoff zu trennen. Normalerweise treten sie gemeinsam auf, weil sie auch gemeinsam im Innern von Sternen entstehen.
Zudem wurde bereits in zwei früheren Studien (https://arxiv.org/pdf/1810.02148.pdf u. https://arxiv.org/pdf/1811.00023.pdf) aufgezeigt, dass es für ein Objekt wie ʻOumuamua enorm viel Masse pro Stern braucht – mehr felsige Masse, als jene, von der anzunehmen ist, dass sie aus Planetensytemen herauskatapultiert wird. Als Konsequenz liefert die Vorstellung einer seltenen und exotischen Herkunft von Stickstoffbergen angesichts der notwendigen Masse eine unwahrscheinliche Erklärung für ʻOumuamua.
Schlussendlich müssten rund 10 Prozent von ʻOumuamua verdampft und ausgegast sein, um jene überschüssige Kraft zu erklären, die den beobachteten, raketenartigen Schub verursacht haben könnte. Diese Feststellung ergibt sich aus dem Impulserhaltungsgesetz. Derartige Mengen an (verdampfendem) Stickstoff hätten das Sonnenlicht dann aber derart stark reflektiert, dass wir diesen Vorgang tatsächlich in Form eines Kometenschweifes beobachtet hätten. Das aber, war schlichtweg nicht der Fall.“
Aktuell hat sich Avi Loeb gemeinsam mit seinem Kollegen Amir Siraj erneut der Hypothese von ‘Oumuamua als Stickstoff-Eisberg gewidmet und das Ergebnis in einem Fachartikel vorab via ArXiv.org veröffentlicht, der nun auch vom Fachjournal „New Astronomy“ für eine baldige Fachpublikation akzeptiert wurde.
Erneut zeigen Loeb und Siraj darin, dass es vermutlich viel zu wenig Exo-Plutos in unserer Galaxie geben dürfte, um mit diesem Modell die Detektion eines von einem solchen Exoplaneten stammenden Stickstoff-Asteroiden erklären zu können.
Laut Desch und Jackson könnten Einschläge auf einem solchen Exo-Pluto rund eine Billion solcher Objekte in den interstellaren Raum katapultieren, von denen etwa die Hälfte aus Wassereis und Stickstoffeis bestünden. Diese Objekt-Populationen würde ausreichen, um die Entdeckung und Eigenschaften und auch den rätselhaften Schub von ‘Oumaumua hinreichend zu erklären, so die Autoren.
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Hingegen argumentiert Loeb in seinem jüngsten Fachartikel, dass alleine die Entdeckung von ‘Oumaumua eine gewaltige Population an ähnlichen Objekten (was auch immer diese schlussendlich sind) nahelegt, dass jedoch in unserer Milchstraße selbst gar nicht genügend Material vorhanden sei, um die Vorstellung von einer derart notwendig großen zugrundliegenden Pluto-artigen Planeten-Population wissenschaftlich zu stützen.
Tatsächlich basiert die Hypothese von Jackson und Desch auf der (bislang keinesfalls bestätigten) Annahme, dass es ausreichend Exo-Plutos in der Milchstraße gibt. Um diese Vorstellung jedoch zu stützen, müsste ausreichend Material aus der Sternentstehung übrig geblieben sein, um die Entstehung einer derartigen Menge an Pluto-Planeten zu erlauben.
Um genau diese Frage zu beantworten, haben Loeb und Siraj das Modell eines Stickstoff-Eisbergs und die Frage untersucht, ob genügen stellares Material existiert, damit das Modell auch anwendbar ist.
„Unsere Berechnung hierfür sind sehr klar und einfach“, zitiert „UniverseToday.com“ Siraj und Loeb. „Wir nutzen alle Parameter des Stickstoff-Eisberg-Modells, mit denen das Vorhandensein von ‘Oumuamua-artigen Objekten und die Entdeckung von ‘Oumuamua in unserem Sonnensystem erklärt werden könnte, sowie die grundlegend bekannten Fakten über Sterne in unserer Milchstraße genutzt. Anhand der sich daraus ableitenden Werte können wir die Gesamtmasse der solaren bzw. stellaren Metallizität ableiten, die zu Exo-Pluto umgewandelt werden müsste, damit die Hypothese des Stickstoff-Modells plausibel wird.“
Das Ergebnis sei für das Stickstoff-Eisberg-Modell ernüchternd: „Selbst unter den optimistischsten Annahmen, verfehlt das Modell die notwendige Masse um mehrere Größenordnungen.“ Kurz gesagt: Ein Sternsystem besitzt schlichtweg nicht genügend Stickstoff, um eine robuste Population an Exo-Plutos zu erzeugen. Statistisch kann es also nicht genügend interstellare Objekte (ISOs) geben, die aus Stickstoff bestehen, um die Entdeckung von ‘Oumuamua wissenschaftlich sauber erklären zu können.“
Das Modell werde zudem noch unwahrscheinlicher, wenn man in Betracht ziehe, wie stark kosmische Strahlung interstellare Objekte auf ihrer Reise zwischen den Planetensystemen erodiert – ein Prozess der, das zeigen jüngste Untersuchungen, schneller abläuft, als lange Zeit angenommen.
„Das Hauptproblem des Modells eines Stickstoff-Eisbergs ist das, dass es zur Entstehung einer ausreichenden Population solcher Objekte mehr als das zehnfache der gesamten Sternenmasse unserer Galaxie benötigen würde, um schlussendlich ausreichend Exo-Plutos entstehen zu lassen, die es braucht, um ‘Oumuamua zu erklären“, zitiert UniverseToday.com Siraj. „Wenn wir dann auch noch die unausweichliche kosmische Erosion der angenommenen Stickstoff-Eisberge miteinbeziehen, brauchen wir sogar das Tausendfache der gesamten stellaren Masse der Milchstraße. Diese Zahlen lassen das Stickstoff-Modell für ‘Oumuamua ins Unhaltbare schwinden, da zudem auch nur ein geringer Anteil der stellaren Masse in die Produktion von Exo-Plutos fließt.“
Neben Loeb und Siraj zweifeln auch andere Autoren in Fachartikeln an der Stickstoff-Eisberg-Hypothese und haben diese ähnlich basierte Kritik und Zweifel vorab via Arxiv.org und in der Oktober-Ausgabe des Fachjournals „Bulletin of the American Astronomical Society“ (BAAS) dargelegt. Auch hier kommen die Autoren zu der Überzeugung, dass es zu wenige der Stickstoff-Asteroiden geben kann, um damit ‘Oumuamua zu erklären.
Doch bedeutet die Widerlegung der Stickstoff-Eisberg-Hypothese nun im Umkehrschluss, dass es sich bei ‘Oumuamua tatsächlich um ein außerirdisches Artefakt, eine Art Lichtsegel handelt, wie es Avi Loeb vermutet?
Nein. Auch diese Schlussfolgerung ist derzeit als solche noch nicht zulässig. Allerdings kann damit bis auf Weiteres die bislang stärkste Hypothese für eine natürliche Erklärung für ‘Oumuamua vorerst als widerlegt betrachtet werden. „Dieses Modell steht nun nicht mehr zur Diskussion“, zitiert UniverseToday Siraj abschließend. „Das bedeutet, dass das Rätsel um ‘Oumuamua wieder ganz weit offensteht und uns dazu herausfordert, zukünftige ‘Oumuamua-artige Objekte noch genauer und besser zu untersuchen.“ Denn tatsächlich legt alleine die Entdeckung des Objekts ‘Oumuamua nahe, dass unser Sonnensystem jährlich von einer Vielzahl solcher Objekte „besucht“ werden sollte.
Mit dem „Galileo Project“ haben Loeb und Kollegen genau diese Suche und Untersuchung und such nach potenziellen außerirdischen Artefakten zum Ziel (…GreWi berichtete). Teil dieser Anstrengungen werden unter anderem Beobachtungen mit dem schon 2023 seinen wissenschaftlichen Dienst aufnehmenden “Vera C. Rubin Obserbvatory” in Chile sein, das mit einem 8,4-Meter Spiegel und einer 3200-Megapixel-Kamera 10 Jahre lang ferne Sterne und Galaxien, aber auch unser eigenes Sonnensystem erforschen soll und dabei auch gezielt nach ‘Oumuamua-artigen Objekten suchen wird. Einige Astronomen schätzen, dass auf diese Weise alleine mit dem Vera C. Rubin Observatorium bis zu 5 interstellare Objekte pro Monat entdeckt werden können. Weitere Missionen, die dann auch ein solches Objekt abfangen und aus direkter Nähe untersuchen sollen, sind ebenfalls bereits in Planung.
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