Bologna (Italien) – Neuste Beobachtungsdaten des Weltraumteleskops Hubble und des Very Large Telescope (VLT) der Europäischen Südsternwarte (ESO) in Chile legen nahe, dass in den aktuellen Theorien zum Verhalten der Dunklen Materie möglicherweise Baustein fehlt. Dieser fehlende Bestandteil könnte einige Unterschiede zwischen theoretischen Vorhersagen und wirklichen Beobachtungsdaten zur Dunklen Materie erklären.
Wie das Team um Massimo Meneghetti vom INAF-Observatorium für Astrophysik und Weltraumforschung in Bologna aktuell im Fachjournal „Science“ (DOI: 10.1126/science.aax5164) berichtet, gibt es eine unerwartete Diskrepanz zwischen Beobachtungen zur Konzentrationen dunkler Materie in einigen Beispielen massereicher Galaxienhaufen und theoretischen Computersimulationen darüber, wie dunkle Materie in solchen Sternenclustern eigentlich verteilt sein sollte. Die neuen Ergebnisse zeigen, dass einige kleine Konzentrationen dunkler Materie Linseneffekte hervorrufen, die zehnmal stärker sind als erwartet.
Hintergrund
Als „Dunkle Materie“ bezeichnen Astrophysiker jenen „unsichtbaren Klebstoff“, der Sterne, Staub und Gas in einer Galaxie zusammenhält. Die mysteriöse Substanz macht den größten Teil der Masse einer Galaxie aus und bildet die Grundlage für die großräumige Struktur unseres Universums. Da Dunkle Materie selbst aber kein Licht emittiert, absorbiert oder reflektiert, ist ihre Anwesenheit nur durch ihre Wechselwirkung, etwa durch ihre Anziehungskraft, auf sichtbare Materie im Raum zu bemerken. Bis heute wissen weder Astronomen noch Physiker, um was genau es sich bei der Dunklen Materie handelt.
Wie die Forscher und Forscherinnen berichten, sind Galaxienhaufen, die massereichsten und jüngst zusammengesetzten Strukturen im Universum, zugleich auch die größten Orte, an denen sich Dunkle Materie findet: „Solche Cluster bestehen aus einzelnen Mitgliedsgalaxien, die weitgehend durch die Schwerkraft der dunklen Materie zusammengehalten werden“, so Meneghetti und führt dazu weiter aus: „Galaxienhaufen sind ideale Laboratorien, um zu untersuchen, ob die derzeit verfügbaren numerischen Simulationen des Universums gut jene Beobachtungen reproduzieren, die wir anhand von Gravitationslinsen tatsächlich ableiten können.“
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In ihrer aktuellen Studie haben die Astronomen und Astronominnen eine Vielzahl an Tests anhand der Beobachtungsdaten durchgeführt, und wir sind sicher, dass diese Nichtübereinstimmung zwischen Vorhersagen und tatsächliche Beobachtungen darauf hindeutet, dass „ein physikalischer Bestandteil entweder in den Simulationen oder in unserem Verständnis der Natur der dunklen Materie fehlt“.
„Es gibt ein Merkmal des realen Universums, das wir in unseren aktuellen theoretischen Modellen einfach nicht erfassen“, fügt Priyamvada Natarajan von der Yale University hinzu, einer der führenden Theoretiker des Teams. „Dies könnte eine Lücke in unserem derzeitigen Verständnis der Natur der Dunklen Materie und ihrer Eigenschaften signalisieren, da diese exquisiten Daten es uns ermöglicht haben, die detaillierte Verteilung der Dunklen Materie auf kleinsten Skalen zu untersuchen.“
Die Verteilung der dunklen Materie in den Sternenhaufen wird durch Messung der von ihnen erzeugten Verzerrung bzw. Biegung des Lichts – des Gravitationslinseneffekts – deutlich. Die Schwerkraft der in Clustern konzentrierten dunklen Materie vergrößert und verzerrt das Licht von Objekten im fernen Hintergrund. Dieser Effekt erzeugt Verzerrungen in den Formen von Hintergrundgalaxien, die in Bildern der Cluster erscheinen. Diese Gravitationslinsen können oft auch dazu führen, dass mehrere Bilder derselben entfernten Galaxie rund um einen Galaxienhaufen erscheinen: „Je höher die Konzentration der dunklen Materie in einem Cluster ist, desto dramatischer ist ihre Lichtbiegewirkung“, erläutern die Forscher. „Das Vorhandensein kleinerer Klumpen dunkler Materie, die mit einzelnen Clustergalaxien assoziiert sind, erhöht das Ausmaß der Verzerrungen. In gewissem Sinne fungiert der Galaxienhaufen als großflächige Linse, in die viele kleinere Linsen eingebettet sind.“
Die gestochen scharfen Hubble-Aufnahmen wurden mit der „Wide Field Camera 3“ und der „Advanced Camera for Surveys“ des Weltraumteleskops erstellt. In Verbindung mit Spektren des „Very Large Telescope“ (VLT) erstellte das Team um Meneghetti eine genaue Karte der Dunklen Materie mit hoher Wiedergabetreue. Durch Messung der Linsenverzerrungen konnten Astronomen die Menge und Verteilung der Dunklen Materie unter anderem in den Galaxienhaufen MACS J1206.2-0847, MACS J0416.1-2403 und Abell S1063 ermitteln.
Zur Überraschung der Astronomen, zeigten die Hubble-Aufnahmen neben den dramatischen Bögen und länglichen Merkmalen entfernter Galaxien, die durch die Gravitationslinsen jedes Clusters erzeugt wurden, auch eine unerwartete Anzahl kleinerer Bögen und verzerrter Bilder, die in der Nähe des Kerns jedes Clusters miteinander verschachtelt waren, dort also wo die massereichsten Galaxien existieren. Die Forscher glauben nun, dass diese verschachtelten Linsen durch die Schwerkraft dichter Materiekonzentrationen in den einzelnen Clustergalaxien erzeugt werden. Anhand spektroskopischer Beobachtungen konnten die Wissenschaftler dann die die Geschwindigkeit der Sterne vermessen, die im Innern mehrerer Clustergalaxien kreisen, und so auch ihre Massen bestimmen.
„Die Geschwindigkeit der Sterne erlaubt uns eine Schätzung der Masse jeder einzelnen Galaxie, einschließlich der Menge an Dunkler Materie“, fügte Teammitglied Pietro Bergamini, ebenfalls vom INAF-Observatorium hinzu.
Durch die Kombination von Hubble-Bildgebung und der VLT-Spektroskopie konnten die Astronomen Dutzende von mehrfach abgebildeten Hintergrundgalaxien mit Gravitationslinsen identifizieren und so eine gut kalibrierte, hochauflösende Karte der Massenverteilung der Dunklen Materie in jedem Cluster zusammenzustellen.
Diese Karten der Dunklen Materie verglichen die Forschenden dann mit Proben simulierter Galaxienhaufen mit ähnlichen Massen, die sich in ungefähr gleichen Entfernungen befanden. Die Galaxienhaufen im Computermodell zeigten auf den kleinsten Skalen – jenen Skalen, die mit einzelnen Clustergalaxien assoziiert sind – jedoch nicht die gleiche Konzentration der tatsächlichen Dunklen Materie.
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Quelle: Spacetelescope.org, ESA
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