Studie: Konsistentes physiologisches Muster hinter Nahtoderfahrungen

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Lüttich (Belgien) – Ein internationales Neurowissenschafts-Team schlägt ein neues Modell vor, das die Mechanismen hinter Nahtoderfahrungen (NDEs) erklären soll und will auch ein konsistentes physiologisches Muster gefunden haben. Allerdings bedient die Studie lediglich materiell-neurophysiologische Phänomene und vernachlässigt all jene NDE-Aspekte, die darüber hinaus die eigentliche Qualität von vielen Nahtoderfahrungen ausmachen.
Wie das NDE-Arbeitsgruppe um Charlotte Martial von der Universität Lüttich aktuell in einem Übersichtsartikel im Nature-Fachjournal „Nature Reviews Neurology“ (DOI: 10.1038/s41582-025-01072-z) berichtet, stütze sich die Studie auf übereinstimmende empirische Erkenntnisse aus den Bereichen Neurobiologie, Psychologie und Evolutionstheorie.
Laut den Forschenden deuten die Ergebnisse darauf hin, dass Faktoren wie Sauerstoffmangel, erhöhter Kohlendioxidgehalt und gestörter Energiehaushalt des Gehirns Reaktionen auslösen können, die zu intensiven Wahrnehmungs- und Emotionserlebnissen führen, wie sie häufig bei Nahtoderfahrungen berichtet werden.
Hintergrund
Als Nahtoderfahrung (Near Death Experiences, NDEs) werden in der Regel Erlebnisse im Angesicht lebensbedrohlicher Situationen (etwa bei Herzstillstand, Schlaganfällen, nach Unfällen, beim Ertrinken oder während riskanter Operationen) bezeichnet, während derer die Betroffenen von einer ganzen Bandbreite an religiösen, spirituellen Erlebnissen (Flug zum Licht), psychisch-physischen Symptomen wie außerkörperlichen Wahrnehmungen bis hin zum Hören und Sehen von (meist spirituellen) Wesenheiten berichten.
Konkret bezieht sich die Studie selbst dabei auf:
– Außerkörperliche Erfahrungen, bei denen eine dissoziative Wahrnehmung auftritt, sich vom eigenen physischen Körper zu lösen.
– Verzerrte Zeitwahrnehmung, die den Eindruck vermittelt, dass die Zeit sich verlangsamt, stillsteht oder beschleunigt.
– Ein intensives Gefühl von Ruhe, Frieden und Wohlbefinden.
– Ein Rückblick auf das eigene Leben oder ein „Vorbeiziehen“ von Erinnerungen in Sekundenschnelle.
– Helle Lichter, lange Tunnel und Begegnungen mit verstorbenen Verwandten oder unbekannten Gestalten, die als fühlend, mystisch oder spirituell wahrgenommen werden.
„Viele faszinierende NDEs regen die Vorstellungskraft an, und selektive Wahrnehmung führt dazu, dass hauptsächlich sich wiederholende Muster solcher Erfahrungen in den Fokus rücken“, erklären die Autorinnen und Autoren. „Weniger oft erzählt werden jedoch Nahtoderlebnisse, die trotz gleicher Intensität albtraumhafte, banale oder scheinbar unsinnige Themen beinhalten. Subjektive Zustände, die NDEs ähneln, können sowohl in lebensbedrohlichen als auch in nicht lebensbedrohlichen Situationen auftreten, etwa bei Ohnmacht oder unter Drogeneinfluss.“
Oft werden NDEs als Episoden eines vom Körper losgelösten Bewusstseins beschrieben, die in Situationen auftreten, die eine tatsächliche oder empfundene physische Bedrohung beinhalten. „Die berichteten Erfahrungen sind phänomenologisch sehr unterschiedlich, wobei Inhalt und Interpretation von den auslösenden Bedingungen wie dem psychischen Zustand und den physiologischen Reaktionen des Einzelnen beeinflusst werden.“
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Frühere naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle für Nahtoderfahrungen umfassten psychologische, neurophysiologische und evolutionäre Ansätze, die meist unabhängig voneinander entwickelt wurden. In ihrem aktuellen Artikel führten die Forscher zunächst eine narrative Übersicht durch, die sich auf Studien an Menschen und Tieren, psychedelische Neurowissenschaften und klinische Daten stützt, um zu erklären, wie veränderte Bewusstseinszustände in kritischen Momenten entstehen können. Dabei wurde keine einzelne Experimentalkohorte analysiert, sondern Daten aus einer Vielzahl bereits veröffentlichter Studien zusammengeführt.
Tierversuche und Neuroimaging-Daten von kritisch kranken Patienten lieferten Erkenntnisse über den physiologischen Zusammenbruch, der NDEs auslösen könnte.
Während eines Herzstillstands und anderer kritischer Ereignisse zeigte sich ein konsistentes Muster physiologischer Störungen:
Eine verringerte Gehirndurchblutung löst eine Hypoxie (Minderversorgung mit Sauerstoff) aus und erhöht den Kohlendioxidgehalt. Eine Kaskade von Faktoren führt dann zu einer Übersäuerung des Gehirns (zerebrale Azidose), einer Erschöpfung von Adenosintriphosphat (ATP, einem chemischen Molekül, das in allen Zellen als Energiespeicher und primäre Energiequelle dient) und einer plötzlichen Freisetzung von Neurotransmittern über mehrere Gehirnsysteme hinweg, darunter Serotonin, Dopamin, Glutamat, Noradrenalin, der Neurotransmitter GABA (Gamma-Aminobuttersäure), Acetylcholin und Endorphine.
Wichtige mechanistische Details umfassen erhöhte Serotoninspiegel und die Aktivierung von 5-HT2A-Rezeptoren, die möglicherweise zu visuellen Halluzinationen und einem Gefühl verstärkter Realität beitragen. Die Freisetzung von Dopamin könne die emotionale Bedeutsamkeit der Erlebnisse beeinflussen, so die Studie: „Noradrenalin und Acetylcholin scheinen mit der Gedächtniskodierung verknüpft zu sein. GABA und Endorphine werden mit beruhigenden Empfindungen in Verbindung gebracht.
Tatsächlich fanden die Forscher Parallelen zwischen NDEs und psychedelisch induzierten Zuständen, insbesondere durch Substanzen wie DMT und Ketamin, die ähnliche Rezeptorsysteme beeinflussen: „Psychologische Merkmale wie eine erhöhte Disposition zur Dissoziation und das Eindringen von REM-Schlafphasen in das Wachbewusstsein könnten Individuen anfälliger für Nahtoderfahrungen unter Stress machen.“
Die Ergebnisse legen außerdem nahe, dass NDEs und das sogenannte „Scheintodverhalten“ (Thanatose) evolutionäre Wurzeln als Bewältigungsmechanismen teilen könnten – Eine Erkenntnis, die selbst jedoch nicht neu ist (…GreWi berichtete).
Auf Basis der Übereinstimmung neurobiologischer und psychologischer Reaktionen auf extreme physiologische Belastungen entwickelten die Forscher das sogenannte NEPTUNE-Modell (Neurophysiological Evolutionary Psychological Theory Understanding Near-death Experience) und beschreiben es als ein Modell zur umfassenden Integration verschiedener Forschungsansätze. „Unser NEPTUNE-Modell ist zwar derzeit noch theoretisch, bildet jedoch eine Grundlage für die nächste Forschungsphase, in der jeder Mechanismus empirisch getestet werden soll.“
Zukünftige Studien sollen das NEPTUNE-Modell empirisch überprüfen, indem neuroimaging-gestützte Analysen, physiologische Messungen und weitere Untersuchungen der Gehirnaktivität in Todesnähe durchgeführt werden.
Schlussendlich glauben die Forschenden, dass ihr NEPTUNE-Modell Fragen über das Bewusstsein während kritischer Erkrankungen aufwerfen und eine Neubewertung der Hirntod-Kriterien nach sich ziehen könnte, insbesondere im Hinblick auf dokumentierte Gehirnaktivitätsanstiege nach einem Herzstillstand.
Während die Studie sich also auf rein materielle neuro-physiologische Aspekte von Nahtoderfahrungen konzentriert, ist es genau dieser Ansatz, der unter Nahtodforschern mit einem weiter gefassten Ansatz zu Kritik führt.
Dr. Michael Nahm vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) in Freiburg erforscht seit 2008 Phänomene in Todesnähe, darunter Nahtoderfahrungen. 2022 gehörte sein Beitrag zu den prämierten 11 Finalisten des Essay-Wettbewerbs zu Beweisen für ein den Tod überdauerndes Bewusstsein des „Bigelow Institute for Consciousness Studies“ (BICS). Für Grenzwissenschaft-Aktuell.de ordnet er die aktuelle Studie wie folgt ein:
„Dieses bislang rein theoretische Modell folgt dem typischen Ansatz dieser Arbeitsgruppe: Alles, was sich nicht neurophysiologisch erklären ließe, wird nicht berücksichtigt. Die Autoren und Autorinnen folgen dem ‚fundamentalen Grundsatz der Neurowissenschaft‘, laut dem alle menschliche Erfahrung aus dem Gehirn entsteht. Für beispielsweise außerkörperliche Erfahrungen, die eine Abkoppelung von Geist und Gehirn nahelegen würden, gibt es laut dieser Arbeitsgruppe keine Belege.
Also werden Nahtoderfahrungen in diesem Modell von vorneherein auf das reduziert, was neurophysiologisch erklärt werden könnte. Dieses Verfahren wirkt oft gezwungen, ist maximal Mainstream-orientiert und geht an verschiedenen Kernfragen vorbei. Immerhin gestehen die Forschenden aber zu, dass ihr Modell nur vorläufig ist und das Auftreten von Präkognition in Nahtoderfahrungen damit nicht erklärt werden könnte.“
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Recherchequelle: Nature Reviews Neurology, grenzwissenschaft-aktuell.de
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