Vergessener Visionär: Schon anno 1835 mit der Rakete zum Mond
In der Regel werden als Gründerväter der Raumfahrt drei Männer genannt, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die wissenschaftliche Basis schufen. Das waren der Russe (mit polnischen Vorfahren) Konstantin Ziolkowski, der Amerikaner Robert Goddard und der aus Siebenbürgen stammende Hermann Oberth, der nach dem Krieg in Feucht bei Nürnberg lebte. Es gab allerdings einen weiteren Forscher, der schon 1835 in einem Buch ein Fahr- und Fluggerät mit Raketenantrieb und seinen Einsatz im Weltraum beschrieb. Er hatte das Pech, dass sein Werk anschließend völlig vergessen wurde und keinen Einfluss auf die Entwicklung der Raumfahrt nahm.
Ein Gastbeitrag auf GreWi von Ralf Bülow
Wilhelm Weinholz kam vermutlich um 1800 zur Welt. Das Todesdatum ist unbekannt, sicher wissen wir nur, dass er 1825 in Heidelberg seinen Doktor in Chemie machte. Aus den 1830er Jahren liegen von ihm insgesamt vier Veröffentlichungen vor. 1832 erschienen ein „Handbuch der pharmazeutisch-mathematischen Physik und Chemie“ und ein „Vollständiges, theoretisch-praktisches Handbuch der Mühlenbaukunst“. 1835 übersetzte er das „Manuel du fabricant de papiers“ des Franzosen Louis-Sébastien Lenormand unter dem Titel „Handbuch der Papier-Fabrikation“ ins Deutsche. Im Februar desselben Jahres beendete Weinholz in Braunschweig das Buch, das uns interessiert: „Luftschifffahrt und Maschinenwesen“. Es kam im Verlag von Oehme und Müller in Braunschweig und Leipzig heraus.
Titel des Buches.
Copyright/Quelle: Gemeinfrei / ETH-Bibliothek, Zürich
Das Buch besitzt Oktavformat, umfasst 154 Paragraphen auf 190 Seiten und hat folgenden Untertitel: „Nachweisung eines neuen Bewegungsmittels, in Anwendung auf den Betrieb und die Bewegung von Maschinen, Fahrzeugen, Geschossen und Projectilien aller Art mächtiger und vortheilhafter, als alle seither in Gebrauch genommene Kraftäußerungen; von größester Wichtigkeit aber deßhalb, weil seine Benutzung uns die Horizontaldirection der Luftballons und der aerostatischen Fahrzeuge, sowie die Bewegung, Hemmung und Leitung von Luftfahrzeugen ohne aerostatische Beihülfe, in horizontaler, wie in verticaler Richtung, vollkommen zu Gebote stellt“. Es folgte noch der Spruch „Nec aspera terrent“, zu Deutsch etwa „Mühsal schreckt mich nicht“. So lautete das Motto des Welfenhauses, was darauf hindeutet, dass Weinholz aus Niedersachsen stammte.
Unerwähnt bleibt die Art des Bewegungsmittels, welches das Buch beschreibt. Es handelte sich um eine Heißwasser- oder Dampfrakete. Das Weinholzsche Fahrzeug rollt mit Raketenantrieb über die Straße, pflügt durch Flüsse und Meere oder erhebt sich über den Erdboden. In diesem Fall benötigt es ein horizontal montiertes und drehbares Triebwerk für den Vorwärtsflug und ein zweites in der Vertikalen, das es vor dem Absturz bewahrt. Auf technische Details verzichtete Weinholz weitgehend. Klar wird, dass das Triebwerk eine Kammer umfasst, in die Dampf unter hohem Druck strömt. Eine Seite der Kammer wird geöffnet, und Dampf dringt heraus. Der Druck des Dampfes gegen die anderen Seiten sorgt dafür, dass sich Triebwerk und Fahrzeug in die Richtung bewegen, die der offenen Seite gegenüber liegt. Genauso wird auch von heutigen Autoren das Raketenprinzip erklärt.
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Als „Luftschifffahrt und Maschinenwesen“ 1835 herauskam, waren Raketen schon bekannt, vor allem von Feuerwerken. Im 18. Jahrhundert setzten indische Soldaten Pulverraketen gegen die Engländer ein. Diese entwickelten die Waffe weiter, und die Raketen von Sir William Congreve flogen in den napoleonischen Kriegen wie auch im Krieg gegen die USA von 1812 bis 1814. In den 1820er Jahren verbreiteten sich in England und Amerika Grafiken eines Herrn auf einer „steam riding rocket“ (s. Abb.).
Copyright: Lewis Walpole Library, Yale University
Wilhelm Weinholz mag von dieser satirischen Dampfrakete gewusst haben, bei der Erläuterung seines Konzepts geht er aber seriöser zu Werk. Die Science Fiction des 19. Jahrhunderts verzichtete weitgehend auf Raketen. In Jules Vernes Mondflug-Romanen aus den 1860er Jahren feuert eine riesige Kanone das Raumschiff der Helden ab. Nur bei einer entscheidenden Kurskorrektur in Mondnähe werden kleine Feststoffraketen gezündet.
Zeitgenössischer Buchtitel zu Jules Vernes „Von der Reise zu Mond“
Das Buch von Weinholz liegt als Scan im Internet vor, etwa von Exemplaren aus Zürich oder Dresden. Die ersten 26 Paragraphen bringen eine kurze Geschichte der Luftfahrt, dann folgen 7 Paragraphen über lenkbare Ballons. Paragraph 34 bis 51 behandelt ein mysteriöses verkehrstechnisches Projekt des Heidelberger Professors Karl August Erb. Mit Paragraph 52 beginnt der Teil zur Dampfrakete. Er endet mit Paragraph 155, und dieser schließt das Werk ab. Einschoben sind die Paragraphen 121 bis 133 über Dampfkanonen. Wir möchten einen Abschnitt in voller Länge zitieren, denn er behandelt die Nutzung des Weinholzschen Fahrzeuges im Weltall. Der im Text erwähnte Galien war der französische Dominikanermönch Joseph Galien, der 1755 eine visionäre Schrift über Lufttransport veröffentlichte. Kursive Passagen sind im Original gesperrt gedruckt:
§ 118
Was die Höhe des Druckes betrifft, welchen wir durch den Wasserdampf hervorzubringen vermögen: so steht dieselbe, wie bekannt, soweit völlig in unserer Gewalt, als wir die Temperatur noch zu steigeren vermögen, und solange uns die Haltbarkeit der Gefäße nicht verläßt. Die Macht, die wir unterhalb dieser Schranken hervorzubringen imstande sind: ist gewiß unermeßlich größer, als wir jemals in Anwendung zu ziehen, beabsichtigen können. Sie würde auch unermeßlich größer sein, als eine solche, deren wir benöthigt wären, wollten wir selbst mit noch größeren, als den von Galien angegebenen, weiter oben erwähnten Fahrzeugen, nicht nur durch alle Staaten Europa’s, oder „von Avignon aus durchs Innere von Africa,“ durch Asien und America u. s. w., nicht nur um die Erde in allen beliebigen Richtungen, sondern auch von der Erde zum Mond und alle anderen Weltkörpern, und zwar mit irgend einer beliebigen Geschwindigkeit fahren, sei es die des leisesten Zephyrs, sei es die des heftigsten Orkans oder einer größeren Schnelligkeit, als mit welcher die Kugel des Geschützes ihre Bahn beginnt.
Wenn man mit dem Titel des Buches googelt, werden mehrere zeitgenössische Rezensionen angezeigt. Zu nennen sind die „Allgemeine polytechnische Zeitung“, das „Polytechnisches Centralblatt“, das „Magazin der neuesten Erfindungen, Entdeckungen und Verbesserungen“, die „St. Petersburgische Zeitung“ und „Didaskalia: Blätter für Geist, Gemüth und Publizität“. Eine kritische Besprechung brachte das „Polytechnische Journal“. Da die Zeitschrift komplett digitalisiert wurde, ist der Artikel auch Lesern zugänglich, die mit Frakturschrift Probleme haben.
Nach 1835 geriet das Weinholzsche Werk jedoch völlig in Vergessenheit. Unabhängig davon wurden in moderner Zeit erfolgreich Dampfraketen entwickelt.
In den 1950er Jahren beschäftigte sich der Raumfahrtpionier Eugen Sänger mit Heißwasserantrieb, und in den 1960ern griff Daimler Benz bei Crashtests darauf zurück, siehe Foto.
Fassen wir zum Schluss die wichtigsten Punkte zu Wilhelm Weinholz zusammen:
– Sein Buch „Luftschifffahrt und Maschinenwesen“ enthält die erste ausführliche Beschreibung eines raketengetriebenen bemannten Fluggeräts.
– In Paragraph 118 des Buches steht der älteste Hinweis in der technischen Literatur auf die Nutzung des Raketenantriebs für Weltraumflüge.
– Ein für wissenschaftlich-technische Entwicklungen relevantes Buch kann aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit über 180 Jahre lang völlig verschwinden.
Links zum Buch mit Scans finden Sie HIER und HIER
Über den Autor
Ralf Bülow, geboren 1953, studierte Informatik, Mathematik und Philosophie an der Universität Bonn. Er ist Diplom-Informatiker und promovierte in mathematischer Logik. Von 2009 bis 2011 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Kultur- und Wissenschafts-kommunikation der FH Kiel. Während der 1980er Jahre arbeitete Ralf Bülow am Deutschen Museum und dessen Forschungsinstitut in München, zu Anfang der 1990er Jahre als Wissenschafts- und Technik-Journalist. Seit 1996 war er an zahlreichen Ausstellungen zu den Themen Computer, Weltraumfahrt, Astronomie und Physik beteiligt, darunter an „Einstein begreifen“ des Technoseum Mannheim. 2014 wirkte er bei einem Projekt für ein Spionage- und Geheimdienstmuseum in Berlin mit.
© Ralf Bülow (…für grenzwissenschaft-aktuell.de)