Hannover (Deutschland) – Geometrische Verzierungen auf einem 50.000 Jahre alter Knochen stützen erneut die Vorstellung vom Neandertaler als Künstler, lange bevor der moderne Mensch in Europa sesshaft wurde.
Seit der Entdeckung erster Fossilienreste im 19. Jahrhundert hat der Neandertaler des Ruf eines primitiven Vormenschen. Dass er in der Lage war, effektiv Werkzeuge und Waffen herzustellen, ist lange nachgewiesen. Ob er aber auch Verzierungen, Schmuck oder gar Kunst anfertigen konnte, ist unter Forschenden immer noch umstritten.
Wie das Forschungsteam unter Leitung Dr. Dirk Leder vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege (NLD) und Kollegen der Universität Göttingen aktuell im Fachjournal „Nature Ecology and Evolution“ (DOI: 10.1038/s41559-021-01487-z) berichten, haben sie einen Neufund aus der Einhornhöhle im Harz analysiert und kommen zu einem spannenden Ergebnis: „Der Neandertaler, unser genetisch nächster Verwandter, hatte bereits erstaunliche kognitive Fähigkeiten.“
Die Forscherinnen und Forscher haben in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft Unicornu fossile e. V. seit 2019 neue Ausgrabungen an der Einhornhöhle im Harz durchgeführt. Erstmals gelang es so, im verstürzten Eingangsbereich der Höhle gut erhaltene Kulturschichten aus der Zeit des Neandertalers zu erschließen. Unter den erhaltenen Jagdbeuteresten hat sich ein unscheinbarer Fußknochen als Sensation herausgestellt, der auf ein Alter von über 51.000 Jahren datiert werden konnte: Nach der Entfernung des anhaftenden Erdreichs zeigte der Knochen ein winkelartiges Muster aus sechs Kerben. „Wir erkannten rasch, dass es sich nicht um Schlachtspuren, sondern eindeutig um eine Verzierung handeln muss“, erläutert Leder.
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Weitere Experimente mit heutigen Fußknochen von Rindern zeigten dann, dass der Knochen wohl zunächst gekocht werden musste, um das entdeckte Muster anschließend mit Steingeräten in etwa 1,5 Stunden in die aufgeweichte Knochenoberfläche zu schnitzen. Der nun entdeckte kleine Fußknochen stammte von einem Riesenhirsch (Megaloceros giganteus) „Es dürfte kein Zufall sein, dass der Neandertaler den Knochen eines eindrucksvollen Tieres mit riesigen Geweihschaufeln für seine Schnitzerei ausgewählt hat“, sagt Prof. Dr. Antje Schwalb von der Technischen Universität Braunschweig, die an dem Projekt beteiligt ist.
Bisherige Schmuckobjekte aus der Zeit der letzten Neandertaler, die in Frankreich gefunden und auf ein Alter von rund 40.000 Jahre datiert wurden, galten unter Wissenschaftlern und Wissenschaftler als umstritten und werden von einigen als Nachahmungen angesehen, da sich zu dieser Zeit bereits der moderne Mensch in Teilen Europas ausgebreitet hatte. Aus etwa zeitgleichen Höhlenfundstellen des modernen Menschen auf der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg sind Schmuckobjekte und kleine Elfenbeinskulpturen überliefert.
„Das hohe Alter des Neufundes aus der Einhornhöhle zeigt nun, dass der Neandertaler bereits Jahrtausende vor der Ankunft des modernen Menschen in Europa in der Lage war, Muster auf Knochen selbstständig herzustellen und wohl auch mit Symbolen zu kommunizieren“, sagt der Projektleiter Prof. Dr. Thomas Terberger vom NLD und vom Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen. „Dies spricht für eine eigenständige Entwicklung der kreativen Schaffenskraft des Neandertalers. Der Knochen von der Einhornhöhle repräsentiert somit das älteste verzierte Objekt Niedersachsens und einen der bedeutendsten Funde aus der Zeit des Neandertalers in Mitteleuropa.“
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Recherchequelle: Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege
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