Wissenschaftler und Philosophen beschreiben bislang übersehenes Evolutionsgesetz
Washington (USA) – Wissenschaftler und Philosophen haben eine zwar wichtige, aber bislang übersehene Regel der Evolution beschrieben, laut der komplexe natürliche Systeme sich zu Zuständen mit größerer Musterbildung, Vielfalt und Komplexität entwickeln. Mit anderen Worten, die Evolution beschränkt sich nicht nur auf das Leben auf der Erde, sondern tritt auch in anderen massiv komplexen Systemen auf, von Planeten und Sternen bis hin zu Atomen, Mineralien und mehr.
Wie das Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Carnegie Institution for Science, des California Institute of Technology (Caltech), der Cornell University und der University of Colorado aktuell im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS; DOI: 10.1073/pnas.2310223120) erläutert, beschreiben und erklären „makroskopische“ Naturgesetze Phänomene, die im täglichen Leben in der natürlichen Welt erlebt werden. Natürliche Gesetze, die mit Kräften und Bewegung, Gravitation, Elektromagnetismus und Energie zusammenhängen, wurden beispielsweise vor mehr als 150 Jahren beschrieben.
Die aktuelle Arbeit legt nun eine moderne Erweiterung vor – ein makroskopisches Gesetz, das Evolution als ein gemeinsames Merkmal komplexer Systeme der natürlichen Welt anerkennt. Diese Systeme zeichnen sich durch folgende Merkmale aus:
– Sie bestehen aus vielen verschiedenen Komponenten, wie Atomen, Molekülen oder Zellen, die immer wieder angeordnet und umgeordnet werden können.
– Sie unterliegen natürlichen Prozessen, die unzählige verschiedene Anordnungen entstehen lassen.
– Nur ein kleiner Bruchteil all dieser Konfigurationen überlebt in einem Prozess namens „Auswahl aufgrund von Funktion“.
Unabhängig davon, ob es sich um ein lebendes oder nicht lebendes System handelt, tritt Evolution also auf, wenn eine neue Konfiguration gut funktioniert und so die Funktion verbessert.
Die Autoren und Autorinnen um Dr. Michael L. Wong, Astrobiologe am Carnegie-Institut und Erstautor der Studie bezeichnen ihr Gesetzt als „Gesetz der zunehmenden funktionalen Information“ und sagen damit voraus, dass ein System sich weiterentwickeln wird, „wenn viele verschiedene Konfigurationen des Systems für eine oder mehrere Funktionen ausgewählt werden“. Demnach ist ein wichtiger Bestandteil dieses vorgeschlagenen Naturgesetzes die Idee der ‚Auswahl für Funktion‘“. (…) Im Fall der Biologie setzte Darwin die Funktion hauptsächlich mit dem Überleben gleich – der Fähigkeit, lange genug zu leben, um fruchtbare Nachkommen zu zeugen.“ Die neue Studie erweitert diese Perspektive und stellt fest, dass in der Natur mindestens drei Arten von Funktionen auftreten.
Die Forschenden erläutern weiter, dass die grundlegendste Funktion zunächst jene der Stabilität ist: „Stabile Anordnungen von Atomen oder Molekülen werden ausgewählt, um fortzubestehen. Ebenfalls ausgewählt werden dynamische Systeme mit kontinuierlicher Energiezufuhr. Die dritte und interessanteste Funktion ist ‚Neuartigkeit‘ – die Tendenz von sich entwickelnden Systemen, neue Konfigurationen zu erkunden, die manchmal zu überraschend neuen Verhaltensweisen oder Eigenschaften führen. Die evolutionäre Geschichte des Lebens ist reich an Neuheiten – die Photosynthese entwickelte sich, als Einzelzellen lernten, Lichtenergie zu nutzen, das Vielzeller-Leben entwickelte sich, als Zellen lernten, zusammenzuarbeiten, und Arten entwickelten sich dank vorteilhafter neuer Verhaltensweisen wie Schwimmen, Gehen, Fliegen und Denken.“
Doch während Evolution meist mit organischem Leben assoziiert werde, finde die gleiche Art von Evolution auch im Mineralreich statt, erläutert die Studie: „Die frühesten Mineralien repräsentieren besonders stabile Anordnungen von Atomen. Diese urtümlichen Mineralien bildeten die Grundlage für die nächsten Generationen von Mineralien, die an den Ursprung des Lebens beteiligt waren. Die Evolution des Lebens und der Mineralien sind miteinander verflochten, da das Leben Mineralien für Schalen, Zähne und Knochen verwendet.
Hintergrund
Tatsächlich gibt es auf der Erde heute fast 6.000 bekannte Mineralien, die sich im Laufe von 4,5 Milliarden Jahren dank immer komplexerer physikalischer, chemischer und letztendlich biologischer Prozesse entwickelt haben – und dies ausgehend von gerade einmal etwa 20 Mineralien zu Beginn unseres Sonnensystems.
In Bezug auf Sterne stellt die Arbeit fest, dass kurz nach dem Urknall nur zwei Hauptelemente – Wasserstoff und Helium – die ersten Sterne bildeten. „Diese frühesten Sterne verwendeten Wasserstoff und Helium, um etwa 20 schwerere chemische Elemente zu erzeugen. Und die nächste Generation von Sternen baute auf dieser Vielfalt auf und produzierte fast 100 weitere Elemente.“
„Charles Darwin hat eloquent dargelegt, wie Pflanzen und Tiere durch natürliche Selektion mit vielen Variationen und Merkmalen von Individuen und vielen verschiedenen Konfigurationen evolvieren“, kommentiert Robert M. Hazen von der Carnegie Science, einem der führenden Forscher der Studie. „Wir behaupten, dass Darwins Theorie nur ein sehr spezieller, sehr wichtiger Fall innerhalb eines weitaus größeren Naturphänomens ist: Die Vorstellung, dass die Selektion aufgrund von Funktion die Evolution gleichermaßen auf Sterne, Atome, Mineralien und viele andere konzeptionell äquivalente Situationen anwendbar ist, bei denen viele Konfigurationen selektivem Druck ausgesetzt sind.“
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In diesem neuen Artikel betrachten wir Evolution im weitesten Sinne – Veränderung im Laufe der Zeit – was die darwinistische Evolution auf der Grundlage der Details von „Vererbung mit Modifikation‘ einschließt“, fügt Dr. Wong hinzu. „Das Universum erzeugt neue Kombinationen von Atomen, Molekülen, Zellen usw. Diejenigen Kombinationen, die stabil sind und noch mehr Neuheit hervorbringen können, werden weiterhin evolvieren. Das ist es, was das Leben zum eindrucksvollsten Beispiel für Evolution macht, aber Evolution ist überall vorhanden.“
Zu den Auswirkungen der Beobachtung und Erkenntnis gehören unter anderem:
- Ein neues Verständnis darüber, wie unterschiedliche Systeme unterschiedliche Grade an Weiterentwicklungsfähigkeit besitzen. „Potenzielle Komplexität“ oder „zukünftige Komplexität“ wurden als Metriken vorgeschlagen, um zu bestimmen, wie viel komplexer ein sich entwickelndes System noch werden kann.
- Einblicke in die Beeinflussung des Evolutionstempos einiger Systeme durch künstliche Mittel. Die Idee der funktionalen Information legt nahe, dass das Evolutionstempo in einem System auf mindestens drei Arten erhöht werden kann: (1) durch Erhöhung der Anzahl und/oder Vielfalt der interagierenden Elemente, (2) durch Erhöhung der Anzahl verschiedener Konfigurationen des Systems und/oder (3) durch Erhöhung des selektiven Drucks auf das System (zum Beispiel in chemischen Systemen durch häufigere Zyklen von Erwärmung/Abkühlung oder Befeuchtung/Trocknung).
- Ein tieferes Verständnis der generativen Kräfte hinter der Entstehung und Existenz komplexer Phänomene im Universum und der Rolle von Informationen bei ihrer Beschreibung.
- Ein Verständnis des Lebens im Kontext anderer komplexer sich entwickelnder Systeme. Das Leben weist gewisse begriffliche Äquivalenzen mit anderen komplexen sich entwickelnden Systemen auf, aber die Autoren weisen auf eine zukünftige Forschungsrichtung hin und fragen, ob es etwas Besonderes an der Art und Weise gibt, wie das Leben Informationen zur Funktionalität verarbeitet.
- Unterstützung bei der Suche nach außerirdischem Leben: Wenn es eine Abgrenzung zwischen Leben und Nicht-Leben gibt, die mit der Auswahl für Funktion zu tun hat, können wir die „Regeln des Lebens“ identifizieren, die es uns ermöglichen, diese biotische Grenze bei astrobiologischen Untersuchungen zu unterscheiden?
- In einer Zeit, in der sich entwickelnde KI-Systeme zunehmend besorgniserregend sind, ist ein vorhersagendes Gesetz der Information, das beschreibt, wie sowohl natürliche als auch symbolische Systeme sich entwickeln, besonders willkommen.
Die Naturgesetze – Bewegung, Gravitation, Elektromagnetismus, Thermodynamik, usw. – codieren das allgemeine Verhalten verschiedener makroskopischer natürlicher Systeme über Raum und Zeit hinweg. Das „Gesetz der zunehmenden funktionalen Information“ ergänzt das 2. Gesetz der Thermodynamik, das besagt, dass die Entropie (Unordnung) eines isolierten Systems im Laufe der Zeit zunimmt (und die Wärme immer von wärmeren zu kälteren Objekten fließt).
Rechercherquelle: Carnegie Institution for Science
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