Zu viele Mitwisser doch kein Problem selbst für großangelegte Verschwörungen?

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Symbolbild: Zahlreiche Mitarbeiter um Wernher von Braun im NASA-Kontrollzentrum Apollo-8-Mission.

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Edingen-Neckarhausen (Deutschland) – Ein neuer Fachaufsatz stellt ein populäres Argument in Frage, wonach großangelegte Verschwörungen schon im Voraus zum Scheitern verurteilt seien und mit zunehmender Anzahl der daran direkt und indirekt beteiligten Mitwisser über kurz oder lang auffliegen müssten.

In Diskussionen zwischen Verschwörungstheoretikern und ihren Kritikern in Bezug auf die richtige Deutung historischer Ereignisse behaupten Kritiker oft, dass die großen Verschwörungstheorien – wie etwa jene um die angeblich in irdischen Filmstudios inszenierten Apollo-Mondlandungen oder die Anschläge von 9/11 – schon von daher falsch seien, da die angenommene Verschwörung schließlich Hunderte, wenn nicht gar Tausende Mitwisser gehabt haben müsste. Bei einer derart großen Anzahl (die Gesamtanzahl der am Apollo-Programm beteiligten Personen wird auf rund 400.000 Menschen geschätzt), würde – so das Argument der Kritiker – mindestens ein Mitwisser seine geheimen Kenntnisse früher oder später öffentlich machen und so die Verschwörung auffliegen. In einem Fachaufsatz hat der Philosoph und Autor Kim Schlotmann dieses Argument nun einer genauen Analyse unterzogen und kommt zu dem Ergebnis, dass auch große Verschwörungen organisiert werden können, ohne dass es zu vielen Mitwissern oder gar dem Auftreten von sog. Whistleblowern kommen müsse.

04548Titelabbildung der aktuellen Ausgabe der „Zeitschrift für Anomalistik“ (Band 16, 2016).
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Wie Schlotmann aktuell in der jüngsten Ausgabe der „Zeitschrift für Anomalistik“ (Band 16 (2016), Nr. 3, S. 419-428) darlegt, sei dieses von ihm als „Leakage-Problem-Argument“ (zu Deutsch etwa: „Argument vom Problem der undichten Stelle“) bezeichnete Argument nicht stichhaltig und argumentiert hierzu anhand eines historischen Fallbeispiels unter Verweis auf die Ausführungen des Historikers Alex Roland, Professor für Geschichte an der Duke University.

Dieser hatte in einem Artikel von 1992 (Secrecy, Technology, and War: Greek Fire and the Defense of Byzantium, 678-1204. In: Technology and Culture, Vol. 33, No. 4 (Oct. 1992), pp. 655-679) die Geschichte des sog. Griechischen Feuers nachgezeichnet – einer geheimen chemischen Brandwaffe, die den Byzantinern dazu diente, die Angriffe der feindlichen arabischen Heere auf hoher See während der Belagerung von Konstantinopel (674-678 n. Chr.) erfolgreich abzuwehren, in dem sie, die Byzantiner, das „Griechische Feuer“ von ihren Schlachtschiffen aus auf die Flotte der Araber versprühten.

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Roseland bezeichnet das Feuer dabei als etwas, was man sich nicht nur „einfach als Brandbombe“ denken dürfe, sondern eher als ein umfangreiches Waffensystem, das neben dem eigentlichen chemischen Brandstoff auch die zum eigentlichen Stoffgemisch nötigen restlichen Waffenkomponenten umfasste (u.a. die Siphone, das waren Sprühanlagen, die zum Versprühen des Griechischen Feuers dienten, die Dromonen; ca. 50 Meter lange und mit maximal 300 Mann besetzte byzantinische Kriegsschiffe; Kochkessel uvm.) Obwohl im Jahre 814 den Bulgaren sogar 36 Siphone und eine beträchtliche Menge des Stoffgemischs in die Hände fielen, konnten sie nichts damit anfangen – das Gesamtsystem war zu komplex und das Wissen von bloßen Einzelkomponenten reichte nicht aus, um die erbeuteten Objekte auch militärisch erfolgreich anwenden zu können.

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Griechisches Feuer in der einzigen bekannten zeitgenössischen Darstellung aus dem 12. Jh.

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Wie Roseland, so sieht auch Schlotmann den Grund für die Ahnungslosigkeit der Bulgaren und somit für den Erfolg der Geheimhaltung in zwei in Geheimdienstkreisen gängigen Verfahrensweisen: der sogenannten „Kompartimentierung“ (Compartmentalization) und dem „Need to know“.

„Unter Ersterem ist eine geheimdienstliche Arbeitsteilung zu verstehen, bei der wenige Hauptverschwörer die für das Gelingen einer Verschwörung zu erfüllenden Aufgaben an unabhängig voneinander agierende Mitverschwörer zuweisen, die wiederum nur die Erledigung ihrer Aufgaben sicherstellen müssen und darüber hinaus ‚keine Fragen‘ stellen dürfen“, erläutert Schlotmann und führt gegenüber „Grenzwissenschaft-Aktuell.de“ (GreWi) weiter aus: „Diese Mitverschwörer, die durchaus in die Hunderte gehen können und lediglich als kleine ‚Zahnräder im Gesamtbild‘ fungieren, ja, oftmals nicht einmal wissen, welchen Sinn die Erfüllung ihrer Aufgabe überhaupt haben soll, handeln weitgehend ohne Wissen um das Gesamtbild der Verschwörung. Sie erhalten wirklich nur diejenigen (aber auch nicht mehr und nicht weniger!) Informationen, die sie benötigen, um ihre speziell auf sie zugeschnittene Arbeitsaufgabe auch wirklich durchführen zu können. Diese Informationsverknappung wird als ‚Need to know‘ (deutsch etwa: Bedarf an den Dingen, die jemand wissen muss) bezeichnet.“

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Beide Geheimdienstprinzipien kamen beim Bau des Gesamtwaffensystems des Griechischen Feuern zum Einsatz: „So weist Roseland etwa darauf hin, dass sich Arbeiter mit dem Wissen über die Einzelkomponenten niemals zur selben Zeit am selben Ort aufgehalten haben“, erläutert Schlotmann. „Die Schiffsbauer bauten die Dromonen in Werften in Konstantinopel und anderen Häfen, während z.B. die Schmiede, die die Kessel und vermutlich auch die Siphone installierten, in verschiedenen Teilen derselben Werft arbeiteten. Die Bronzearbeiter, die die Siphone herstellten, waren ganz andere Arbeiter als die Eisenarbeiter, die sich um die Kochkessel kümmerten. Doch kein Vertreter dieser Berufssparten sei mit den Chemikern des Hauptwaffenlagers in Konstantinopel in Kontakt gekommen, wo das eigentliche Stoffgemisch gebraut wurde. Somit ergibt sich die Wahrscheinlichkeit, dass keiner dieser Arbeiter jemals auf einen Siphonator getroffen ist – also jemand, der darin ausgebildet war, dieses Waffensystem mittels der Siphone auf hoher See zu bedienen. Alles dies lässt also darauf schließen, dass die Byzantiner das Wissen um ihr Waffensystem so kompartimentierten, dass jemand, der in die Hände des Gegners gefallen wäre, nie mehr als einen Bruchteil des Geheimnisses hätte verraten können (vgl. Roseland, a.a.O., S. 663f).“

„Tatsächlich war die von den Byzantinern auf diese Weise umgesetzte Verschwörung zur Geheimhaltung des Griechischen Feuers so erfolgreich, dass sie ganze 500 Jahre (!) überdauerte“, fasst Schlotmann zusammen. „Anschließend ging den Geheimnishütern das Wissen um die genaue Zusammensetzung des Feuers verloren. Selbst heutige Chemiker sind nicht in der Lage, das Griechische Feuer vollständig zu rekonstruieren – diese Tatsache macht gerade die Geheimhaltung der Byzantiner wohl zur erfolgreichsten Verschwörung aller Zeiten.“

Damit widerspricht Schlotmann auch den im vergangenen Jahr von dem Oxford-Physiker und Krebsforscher David Robert Grimes vorgebrachten Berechnungen, mit denen dieser mathematisch aufzeigen will, dass und wann jede Verschwörung mit zunehmender Mitwisserschaft und Dauer zwangsläufig scheitern muss (…GreWi berichtete).

Schlotmann, der bereits einleitend festhält, selbst kein Anhänger verschwörungstheoretischer Deutungen zu sein, kommt im Fazit seines Aufsatzes abschließend zu einem vernichtenden Urteil in Bezug auf das unter Kritikern und in Skeptikerkreisen allgegenwärtige Leakage-Problem-Argument: „Es gibt viele sehr gute Argumente gegen solche Verschwörungstheorien wie die 9/11-Controlled-Demolition-Theorie, die Mondlandungsfälschungsbehauptung oder die in Bezug auf Terroranschläge und Attentate vorgebrachten False-Flag-Hypothesen. Das Leakage-Problem-Argument gehört allerdings nicht zu den Argumenten, mit denen man Verschwörungstheorien glaubhaft begegnen kann.“

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