ESA simuliert Folgen von gewaltigem Sonnensturm
Darmstadt (Deutschland) – Ein kompletter Ausfall von Navigation, Kommunikation und Elektronik – und das bei drohenden Kollisionen im Orbit: Ein Albtraum für jede Raumfahrtmission. Genau dieses Szenario haben Teams der Europäischen Raumfahrtagentur ESA jetzt in Darmstadt durchgespielt – allerdings nicht im All, sondern als Extrem-Simulation für die bevorstehende Mission „Sentinel-1D“.

Copyright/Quelle: Goddard Space Flight Center (NASA)/Genna Duberstein
Inhalt
Wie die ESA berichtet, war das Ziel der Simulationen, die Grenzen der Raumfahrtoperationen und die Krisenfähigkeit bei extremem Weltraumwetter zu testen.
Vor jedem Start durchlaufen ESA-Teams intensive Simulationsphasen, in denen die kritischen ersten Stunden eines Satelliten im Orbit realitätsnah geprobt werden. Seit Mitte September trainieren die Missionskontrolleure im Europäischen Satellitenkontrollzentrum (ESOC) für den Start von „Sentinel-1D“, der für den 4. November 2025 geplant ist. Doch diesmal wurde das Szenario auf ein neues Niveau gehoben: Die Simulation orientierte sich am „Carrington-Ereignis“ von 1859 – dem stärksten je aufgezeichneten geomagnetischen Sonnensturm.
„Wenn so etwas tatsächlich passiert, gibt es keine guten Lösungen. Unser Ziel wäre es dann nur noch, den Satelliten zu schützen und den Schaden zu begrenzen“, erläutert Thomas Ormston, stellvertretender Operationsmanager von „Sentinel-1D“.
Sonnenorkan trifft auf den Orbit
Im durchgespielten Szenario läuft zunächst alles nach Plan. Dann, kurz nach der Abtrennung von der Trägerrakete, erreicht eine intensive Röntgen- und UV-Strahlung von einem massiven X45-Sonnenflare die Erde – nur acht Minuten nach dem Ausbruch. Navigationssysteme wie GPS und Galileo fallen aus, Radar- und Kommunikationssysteme werden gestört, insbesondere an den Polarstationen.
Minuten später trifft eine zweite Welle hochenergetischer Teilchen aus Protonen, Elektronen und Alphateilchen ein, die fast Lichtgeschwindigkeit erreichen. Diese Partikel beginnen, die Bordelektronik zu stören, verursachen Datenfehler und können dauerhafte Schäden auslösen.
„Ab diesem Moment läuft die Uhr. Innerhalb von 10 bis 18 Stunden würde ein koronaler Massenauswurf (CME) die Erde treffen – und das ist der eigentliche Super-GAU“, erklärt Gustavo Baldo Carvalho, leitender Simulationsleiter der Mission.
Der Sturm, der alles verändert
15 Stunden später erreicht der CME die Erde. Eine Plasmawolke mit geladenen Teilchen, die mit bis zu 2000 Kilometern pro Sekunde auftrifft. Auf der Erde erzeugt der Sturm spektakuläre Polarlichter bis nach Sizilien – aber auch Zusammenbrüche des Stromnetzes, Überspannungen in Pipelines und Datenchaos.
Im Orbit kämpft die Raumfahrt ums Überleben: Die aufgeblähte Atmosphäre erhöht den Luftwiderstand in niedrigen Umlaufbahnen um bis zu 400 Prozent. Satelliten geraten aus der Bahn, Kollisionswarnungen häufen sich.
„Ein solcher Sturm würde nicht nur die Lebensdauer vieler Satelliten verkürzen, sondern auch die Genauigkeit der Kollisionsdaten massiv verschlechtern“, erklärt Jorge Amaya, Koordinator für Weltraumwettermodellierung bei der ESA. „Ein Ausweichmanöver könnte das Risiko eines anderen Zusammenstoßes sogar erhöhen.“
ww.grenzwissenschaft-aktuell.de
+ HIER den täglichen kostenlosen GreWi-Newsletter bestellen +
Gleichzeitig steigt die Strahlenbelastung, Sensoren fallen aus, Sternsensoren „erblinden“, Batterien überladen sich. „Ein Sonnenausbruch von der Stärke des Carrington-Ereignisses würde praktisch jeden Satelliten gefährden – egal, in welcher Umlaufbahn“, so Amaya.

Quelle: ESA
Generalprobe für den Ernstfall
Die Übung war Teil einer umfassenden Trainingskampagne und bezog erstmals auch das ESA Space Safety Centre ein, das 2022 eingerichtet wurde, um Europas Weltraumsicherheit zu stärken. Neben dem „Space Weather Office“ beteiligten sich auch die „Space Debris Office“ und Kontrollteams anderer Erdbeobachtungsmissionen, um eine realistische, vernetzte Krisensituation zu simulieren.
„Das Training hat uns wertvolle Einblicke gegeben, wie wir in einem echten Extremfall reagieren können. Die wichtigste Erkenntnis: Es ist keine Frage, ob ein solcher Sturm kommt, sondern wann“, sagt Carvalho.
Europas Antwort auf den Sonnenorkan
Die ESA investiert massiv in Frühwarnsysteme gegen Weltraumwetter. Das „Distributed Space Weather Sensor System“ (D3S) soll künftig ein Netzwerk aus Satelliten und Instrumenten bilden, das kontinuierlich Parameter des Sonnenwinds und magnetischer Störungen misst – und damit Europas Infrastruktur und Bürger schützen hilft.
Ein weiterer Eckpfeiler wird die „Vigil“-Mission sein, die 2031 starten soll. „Vigil“ wird die Sonne von der seitlichen Perspektive des Lagrange-Punktes L5 beobachten und so gefährliche Eruptionen erkennen, bevor sie die Erde erreichen.
„Ein solches Ereignis würde unsere Gesellschaft ähnlich treffen wie eine Pandemie – wir spüren seine Folgen erst, wenn es zu spät ist. Deshalb müssen wir vorbereitet sein“, fasst Amaya abschließend zusammen.
Der Test in Darmstadt war der erste seiner Art und zeigte deutlich: Nur durch solche Extremübungen lässt sich Europas Raumfahrt wirklich krisenfest machen – für den Tag, an dem der nächste große Sonnensturm Realität wird.
WEITERE MELDUNGEN ZUM THEMA
Extremster Sonnensturm traf die Erde im Jahr 12.350 v. Chr. 20. Mai 2025
Geophysiker warnen: Sonnensturm könnte USA täglich 40 Mrd. Dollar kosten 21. Januar 2017
Recherchequelle: ESA
© grenzwissenschaft-aktuell.de