Göttingen (Deutschland) – Neurowissenschaftlern ist es erstmals gelungen, aus menschlichen Stammzellen neurale Netzwerke mit Funktionen des menschlichen Gehirns herzustellen, die für die Entwicklung von Lernen und Gedächtnisfunktionen wichtig sind.
Wie das Team um Dr. Maria-Patapia Zafeiriou vom Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Universitätsmedizin Göttingen, gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen des Exzellenzclusters „Multiscale Bioimaging“ (MBExC) sowie des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) aktuell im Fachjournal „Nature Communications“ (DOI: 10.1038/s41467-020-17521-w) berichtet, zeigen die als „Bioengineered Neuronal Organoids“ (BENOs) bezeichneten Gewebe morphologische Eigenschaften des menschlichen Gehirns und entwickeln zudem Funktionen, die für die Entwicklung von Lernen und Gedächtnisfunktionen bedeutend sind.
Wie die Pressemitteilung der Universität Göttungen erläutert, ist das Gehirn eines der komplexesten Organe des menschlichen Körpers: „Für höhere Gehirnfunktionen müssen aktivierende und inaktivierende Nervenzellen in direkter Nachbarschaft zu sogenannten Gliazellen eng und zugleich dynamisch verschaltet sein. Veränderungen in der neuronalen Verschaltung im Gehirn werden mit Veränderungen von Lern- und Gedächtnisfunktionen in Verbindung gebracht. Störungen der neuronalen Verschaltungsfähigkeit gelten als mögliche Ursache für die klinische Symptome neurodegenerativer Erkrankungen.“
Vorbild Gehirn
Grundlage des Gewebes sind demnach menschliche, sog. induzierte pluripotente Stammzellen. Die hergestellten BENOs eignen sich zunächst zur Erforschung des Verlusts der Lernfähigkeit und des Gedächtnisses bei neurodegenerativen Erkrankungen. Die erzeugten BENOs weisen zusätzlich Funktionen auf, wie sie für die Ausbildung von Lernen und Gedächtnis von zentraler Bedeutung sind.
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„Obgleich wir natürlich weit davon entfernt sind, das menschliche Gehirn in allen seinen Funktionen nachzubilden, sind wir von der Beobachtung zellulärer Prozesse, die für Lernen und Gedächtnisausbildung notwendig sind, in den BENOs fasziniert”, erläutert Dr. Zafeiriou,
Vergrößerung der neuronalen Netzwerkstruktur in einem BENO. Neuronale Axone sind nach Färbung des Neurofilament Proteins in Grün, aktvierende glutamaterger Neurone in Rot und Zellkerne in Blau dargestellt.
Copyright/Quelle: Zafeiriou et al. (2020). Nat Commun, 11, 3791.
Die nun aufgezeigten ersten Hinweise auf komplexe, physiologische Funktionen in den gezüchteten neuronalen Netzwerken machen den Forschende Hoffnung, künftig degenerative Erkrankungen des zentralen Nervensystems im Labor simulieren zu können. Aufbauend auf dem zu erwartenden Erkenntnisgewinn wollen sie künftig innovative Therapieverfahren für Erkrankungen wie Parkinson, Epilepise, Schlaganfall und Demenz entwickeln.
BENOs in den ersten Anwendungen
Wie das Team weiterhin berichtet, finden sich bereits erste Anwendungen der entwickelten BENOs in der Simulation von Erkrankungen des zentralen Nervensystems, wie beispielsweise von Epilepsie Syndromen oder auch in der Testung von Arzneistoffen: „Von besonderer Bedeutung ist zudem, dass sich BENOs durch die breite Verfügbarkeit von induzierten pluripotenten Stammzellen aus prinzipiell jedem Menschen, mit oder ohne Erkrankung, herstellen lassen“. Dadurch öffne sich nicht nur die Tür für eine Entwicklung und präklinische Testung individualisierter Verfahren direkt am menschlichen Modell; auch das Züchten von Ersatzgewebe für die Behandlung von Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen werde prinzipiell möglich, fügt der Seniorautor der Studie, Prof. Dr. Hubertus Zimmermann, Direktor des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der UMG sowie Projektleiter im Göttinger Exzellencluster “Multiscale Bioimaging” hinzu.
Da das gesunde und erkrankte menschliche Gehirn bisher noch unvollständig verstanden ist, seien die therapeutischen Möglichkeiten gerade bei degenerativen Erkrankungen des zentralen Nervensystems sehr eingeschränkt. Menschliche neuronale Netzwerke, im Sinne von „Mini-Gehirnen” mit einer zellulären Zusammensatzung und Funktion in Anlehnung an das menschliche Gehirn, eröffnen hier vielversprechende Möglichkeiten: „Neben den Untersuchungen von Fragen zur normalen und fehlerhaften Entwicklung des menschlichen Gehirns gehört dazu auch die Testung neuartiger Therapieverfahren.“
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Mini-Gehirne im Labor zeigen Hirnaktivität wie Frühchen 29. August 2010
Quelle: Universitätsmedizin Göttingen – Georg-August-Universität
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