Studie: Neandertaler nicht ausgestorben, sondern genetisch absorbiert?
Rom (Italien) – Noch immer gehört das Verschwinden der Neandertaler zu den ungelösten Rätseln der frühen Menschheitsgeschichte. Eine neue Studie liefert nun eine provokante Erklärungshypothese: Die Neandertaler könnten gar nicht im klassischen Sinne ausgestorben sein – sondern über lange Zeiträume hinweg vollständig in den frühen modernen Menschen aufgegangen sein. Entscheidend sei dabei nicht ein plötzlicher Zusammenbruch, sondern ein schleichender Prozess genetischer Durchmischung, der letztlich zu einer „Absorption“ führte.

Copyright: hairymuseummatt/DrMikeBaxter (via WikimediaCommons) / CC BY-SA2.0
Inhalt
Wie Andrea Amadei von der University of Rome Tor Vergata, Giulia Lin von der ETH Zürich und Simone Fattorini von der University of L’Aquila aktuell im Nature-Fachjournal „Scientific Reports“ (DOI: 10.1038/s41598-025-22376-6) zunächst erläutern, konkurrieren seit Jahren unterschiedliche Hypothesen um die Gründe für das Verschwinden der Neandertaler miteinander: demografische Schwäche, Umweltveränderungen, Konkurrenz mit Homo sapiens oder genetische Vermischung. In ihrer Studie haben sich die Forschenden vornehmlich auf den letzten Punkt konzentriert. Mithilfe eines neuen mathematischen Modells simulierten sie, wie wiederkehrende, kleine Einwanderungswellen früher moderner Menschen (Homo sapiens) in Neandertalerpopulationen langfristig deren Genpool dominieren konnten. Über Zeiträume von 10.000 bis 30.000 Jahren sei damit nahezu ein vollständiger Austausch möglich gewesen.
Bevorzugtes Modell konkurrierender Hypothesen
Die Modellierung basiert auf der Theorie der „neutralen Drift“. Diese geht davon aus, dass viele genetische Veränderungen nicht durch natürliche Selektion bestimmt sind, sondern durch zufällige Verschiebungen der Häufigkeit bestimmter Allele. Selektive Vorteile oder katastrophale Ereignisse spielen im Modell bewusst keine Rolle – ein deutlicher Gegensatz zu vielen bisherigen Erklärungsversuchen, die etwa Klimaschocks oder Seuchen bemühen.
Laut den Forschenden zeigt ihr Ansatz, dass ein kontinuierlicher Zustrom von Genmaterial einer zahlenmäßig überlegenen Art ausreichen könnte, um eine andere Bevölkerungsgruppe genetisch zu verdrängen, ohne dass diese abrupt verschwindet. Das Ergebnis passe zudem zu archäologischen Daten und zur bekannten genetischen Situation: Menschen in Europa und Asien tragen bis heute Anteile von Neandertaler-DNA. Diese Tatsache wurde bislang meist als Hinweis auf gelegentliche Vermischung interpretiert – das neue Modell legt hingegen nahe, dass die genetische Integration deutlich umfassender war.
www.grenzwissenschaft-aktuell.de
+ HIER den täglichen kostenlosen GreWi-Newsletter bestellen +
Die Studie fügt sich in eine wachsende wissenschaftliche Tendenz ein: Das Bild eines dramatischen, raschen Aussterbens der Neandertaler wirkt zunehmend überholt. Stattdessen scheint sich abzuzeichnen, dass die Übergangsphase zwischen beiden Menschenarten fließender verlief. Bereits genetische Analysen der letzten Jahre hatten klar gezeigt, dass sich Homo sapiens und Neandertaler mehrfach begegnet und vermischt hatten. Die neue Forschung stützt diese Erkenntnisse nun mit einer theoretischen Grundlage, die erklärt, wie ein solcher Prozess über Jahrtausende schließlich zur vollständigen Integration führen kann.
Fragen bleiben
Allerdings räumen die Autoren auch ein, dass weiteren offene Fragen bleiben. Selbst wenn die genetische Absorption ein zentraler Mechanismus gewesen sein sollte, könnten zusätzliche Faktoren den Rückgang der Neandertaler beschleunigt haben – etwa lokale Nahrungsknappheit, Krankheiten oder soziale Konkurrenz mit zunehmender Ausbreitung des modernen Menschen. Die Studie beansprucht daher nicht, alle Punkte abschließend zu klären, sondern präsentiert ein plausibles Grundmodell, das die bekannten Daten konsistent zusammenführt.
Auch für andere archaische Menschenformen wie die Denisova könnte der Ansatz relevant sein. Deren Spuren sind ebenfalls nur noch im Erbgut moderner Bevölkerungen erhalten, während sie selbst im späten Pleistozän verschwanden. Der Mechanismus einer allmählichen genetischen Verdünnung durch wiederkehrende Einwanderungswellen könnte somit auch dort eine Rolle gespielt haben.
WEITERE MELDUNGEN ZUM THEMA
Frühester Nachweis der Vermischung zwischen Neandertalern und modernen Menschen 26. August 2025
Erste Bestattungen: Funde beweisen kulturellen Austausch zwischen Neandertalern und Homo sapiens 12. März 2025
Neue Studien beleuchten Vermischung von Neandertalern und modernen Menschen 12. Dezember 2024
Recherchequelle: Scientific Reports
© grenzwissenschaft-aktuell.de