Frühester Nachweis künstlicher Schädeldeformation in Europa
Florenz (Italien) – In der ligurischen Arene-Candide-Höhle hat ein internationales Forschungsteam den bislang ältesten Nachweis einer künstlichen Schädelmodifikation in Europa gefunden. Der Fund, datiert auf 12.620 bis 12.190 Jahre vor heute, verschiebt die Kulturgeschichte dieser Form der Körpermodifikation auch in Europa um mehrere Jahrtausende nach hinten und belegt, dass diese Form der Körpermodifikation ins Spätpaläolithikum.

Copyright/Quelle: T. Mori et al., Scientific Reports 2025
Inhalt
Wie da Team um Tommaso Mori von der Università Firenze aktuell im Fachjournal „Scientific Reports“, (DOI: 10.1038/s41598-025-13561-8) berichtet, sind kulturelle Eingriffe in die menschliche Erscheinung, von temporären Verschönerungen bis hin zu dauerhaften körperlichen Veränderungen, bereits seit Jahrtausenden Bestandteil menschlicher Gesellschaften. Solche Modifikationen waren und sind nicht nur ästhetische Entscheidungen, sondern stets auch Ausdruck kultureller Werte, Identität und sozialer Zugehörigkeit. Besonders die Praxis der künstlichen Schädeldeformation (artificial cranial modification, ACM) hinterließ dauerhafte Spuren an den Knochen und sind daher auch nach Jahrtausenden noch nachweisbar.
Zwei Hauptformen künstlicher Schädeldeformation
Die Praxis, den Schädel eines Säuglings während des Wachstums gezielt zu formen, ist weltweit dokumentiert. Dabei wird durch Druck auf den weichen Schädelknochen vor der vollständigen Verknöcherung die Kopfform verändert. Zwei Formen sind hierbei besonders häufig:
- Tabulare Modifikation: Mittels fester Objekte wie Holzbrettern werden Vorder- und Hinterkopf abgeflacht und die Seiten verbreitert.
- Annulare Modifikation: Mit Tüchern oder Bändern wird der Schädel rundum eingeschnürt, was zu einer Verlängerung der Schädelkalotte führt.
Der Fund von Arene Candide
Die Arene-Candide-Höhle liegt an der ligurischen Küste und ist eine bedeutende Fundstätte des späten Jungpaläolithikums und beherbergt eine Nekropole mit mindestens 22 jungsteinzeitlichen Bestattungen. Das nun von den Forschenden untersuchte Individuum, „AC12“, wurde in einer besonderen Position gefunden: Der Schädel lag auf dem Grab eines anderen Individuums (AC15) in einer Steinnische, während Unterkiefer und weitere Knochen in einer nahegelegenen Sekundärablage deponiert waren.
Die Radiokarbondatierung der Knochen ergab ein Alter von 12.620 bis 12.190 Jahren. Um den Schädel digital zu rekonstruieren, nutzten die Forscher moderne, virtuelle Anthropologie. Neben der originalen Restaurierung wurden dabei vier unabhängige 3D-Rekonstruktionen erstellt.
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Die geometrisch-morphometrischen Analysen zeigten, dass alle Rekonstruktionen des AC12-Schädels eindeutig mit Individuen übereinstimmen, bei denen eine annulare Schädelmodifikation nachweisbar ist. Statistische Tests bestätigten diese Einordnung mit hoher Sicherheit. Pathologische Ursachen wie Kraniosynostose konnten ausgeschlossen werden, da deren Formmuster nicht mit der verlängerten und abgeflachten Form von AC12 übereinstimmen.
Bedeutung für die Kulturgeschichte Europas
Nach Ansicht der Autoren ist AC12 der älteste bisher bekannte Fall künstlicher Schädeldeformation in Europa. Die Position des Schädels im Grabkontext und die aufwändige Bestattung deuten auf eine besondere kulturelle Bedeutung hin. Die Forscher interpretieren die Schädelmodifikation als Symbol einer zugewiesenen Identität, möglicherweise verbunden mit sozialem Status, Gruppenmitgliedschaft oder Ritualen.
Interessanterweise zeigt nur einer von fünf vollständig erhaltenen Schädeln der Fundstätte eine vergleichbare Modifikation. Das spreche dafür, dass es sich nicht um ein allgemein verbreitetes Merkmal der Gemeinschaft handelte, sondern um ein Erkennungsmerkmal einer spezifischen Untergruppe. Die im Säuglingsalter vorgenommene, irreversible Veränderung hätte so eine über Generationen weitergegebene Gruppenidentität verkörpern können.
Globale Parallelen
Die Entdeckung fügt sich in ein weltweites Muster ein: Künstliche Schädeldeformationen sind aus vielen Regionen bekannt, von den Anden über Zentralasien bis nach Ozeanien, und wurden zu unterschiedlichen Zeiten aus verschiedenen Gründen praktiziert – von Schönheitsidealen über soziale Abgrenzung bis hin zu spirituellen Bedeutungen. Der Fund von Arene Candide zeigt, dass auch europäische Jäger- und Sammlergruppen am Ende der letzten Eiszeit in diese Tradition eingebunden waren.
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Recherchequelle: Scientific Reports
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