Neue Studie kartiert erstmals die „räumliche Architektur“ von Nahtoderfahrungen
Peking (China) – Eine neue Studie liefert erstmals eine systematische visuelle Kartierung der räumlichen Wahrnehmungsstrukturen während sogenannten Nahtoderfahrungen (Near Death Experiences, NDEs) und außerkörperlicher Erfahrungen (Out of Body Expericenes, OBEs).

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Wie France Lerner und Guillaume Tahar vom Beijing Institute of Mathematical Sciences and Applications (BIMSA) gemeinsam mit Netta Shafir von der Hebrew University of Jerusalem vorab via BioRxiv berichten, versuchten sie durch die Kombination digitaler Fragebögen mit grafischen Rekonstruktionsaufgaben jene Aspekte dieser außergewöhnlichen Bewusstseinszustände zu erfassen, die sich bisher der sprachlichen Beschreibung entzogen.
Ein- und erstmalige Erfassung der Erlebnis-Architektur
Nahtoderfahrungen gelten seit Jahrzehnten als eines der faszinierendsten, aber auch schwierigsten Forschungsfelder der Bewusstseinswissenschaften. Während frühere Studien fast ausschließlich auf verbalen Schilderungen beruhten, setzt die neue Untersuchung auf ein sogenanntes „hybrides Erhebungsverfahren“. Dabei wurden 50 ausgewählte Teilnehmerinnen und Teilnehmer – alle mit zuvor validierten NDE-Erfahrungen gemäß der Greyson NDE Scale und der NDE Content Scale – gebeten, ihre Erlebnisse in einzelne Phasen zu gliedern und anschließend grafisch zu rekonstruieren.
Die Befragten zeichneten dabei, wie sie ihren Körper, ihre Perspektive und ihre Bewegung während der Erfahrung wahrgenommen hatten. Mit standardisierten Symbolen (z. B. Kreise für den Körper, Pfeile für Bewegungsrichtungen, Kreuze für die Selbstlokalisierung) konnten die Forschenden anschließend die visuellen und räumlichen Strukturen der einzelnen Sequenzen analysieren.
Das Ergebnis: Konsistente Erlebnisse unabhängig von individuellen Kontext
Über alle Darstellungen hinweg zeigten sich auffallend konsistente geometrische Formen. Viele Teilnehmer beschrieben oder zeichneten visuelle Felder in Form von konischen Räumen, elliptischen Bögen oder ellipsoiden Gebilden – oft begleitet von charakteristischen Farbtönen und Lichtqualitäten. Diese wiederkehrenden Muster interpretiert das Team als sogenannte visuelle Feldinvarianten – grundlegende Strukturelemente des Erlebens, die offenbar unabhängig vom individuellen Kontext oder der religiösen Prägung auftreten.
Besonders interessant: 84 Prozent der Probanden beschrieben ihre Erfahrung als tatsächlich lebensbedrohlich, die restlichen 16 Prozent als NDE-ähnlich, aber nicht lebensgefährlich. Rund drei Viertel berichteten zudem von mindestens einer außerkörperlichen Phase. Dabei unterschieden die Forschenden zwei Typen: eine dissoziative OBE, in der sich die Versuchsperson vom physischen Körper löst und diesen aus der Distanz sieht, sowie eine assoziative OBE, in der sie das Gefühl einer Rückkehr in den Körper erlebt. Einige Teilnehmer berichteten von beiden Formen in derselben Sequenz – quasi als Übergangsphasen innerhalb der gesamten NDE.
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Die grafischen Analysen zeigten außerdem, dass sich der wahrgenommene Standort des „Selbst“ (Self-Location, S-L) und die Bewegungsrichtung (Self-Motion, S-M) innerhalb der dargestellten visuellen Felder systematisch verschieben. Diese Dynamik scheint direkt mit der Formkrümmung und Ausdehnung des jeweiligen visuellen Feldes verknüpft zu sein – ein Hinweis darauf, dass sich die subjektive Raumstruktur während einer Nahtoderfahrung aktiv verändert.
Laut den Autorinnen und Autoren könnte diese Methodik helfen, die bislang schwer fassbare Phänomenologie von NDEs auf eine reproduzierbare wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Die verwendeten Zeichnungen seien nicht bloß Illustrationen, sondern strukturelle Daten, die Aufschluss darüber geben, wie Menschen Raum, Bewegung und Selbstwahrnehmung in Extremsituationen konstruieren.
Historische Vorbilder in der Kunst
Historisch betrachtet reiht sich die Studie in eine lange Tradition ein: Bereits Künstler wie Hieronymus Bosch (s. Titelabb.), William Blake oder Gustave Doré versuchten, die jenseitigen Raumformen mystischer Erfahrungen darzustellen – mit Motiven, die heutigen NDE-Berichten erstaunlich ähneln. Nun wird erstmals der Versuch unternommen, diese ikonografischen Parallelen empirisch zu vermessen.
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Das Forscherteam hofft, durch weitere Datensätze ein konsistentes Modell der „inneren Raumgeometrie des Bewusstseins“ zu entwickeln – eine Art Kartographie des Erlebens an der Grenze zwischen Leben und Tod. Sollte sich dieses methodische Konzept bewähren, könnte es nicht nur das Verständnis von Nahtoderfahrungen, sondern auch das von veränderten Bewusstseinszuständen im Allgemeinen revolutionieren.
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Recherchequelle: BioRxiv
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